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40. Todestag von Heinrich Böll: Was der Glaube ihm bedeutete

Vor 40 Jahren starb Heinrich Böll, einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er sah im Glauben einen Aufruf, die Not anderer zu sehen und etwas dagegen zu tun. Eine Betrachtung.

Heinrich Böll nahm 1983 am Protest gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Mutlangen teil
Heinrich Böll nahm 1983 am Protest gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Mutlangen teilImago / Sommer

„Es gibt ja dieses Wort vom Gewissen der Nation, das Grass und ich und andere sein sollten – das halte ich für lebensgefährlichen Wahnsinn; das Gewissen der Nation ist eigentlich ihr Parlament, ihr Gesetzbuch und ihre Rechtsprechung.“ So äußerte sich Heinrich Böll im März 1975 – damals der meistbeachtete deutsche Schriftsteller, in Deutschland ebenso bekannt wie im Ausland. Dafür hatten seine Erzählungen und Romane gesorgt. Mehr noch sein politisches Engagement. Dort mischte er sich ein, wo nach seiner Einschätzung Gesellschaft und Staat moralisch versagten. Auch die Kirche, in seinem Fall die katholische.

Geboren am 21. Dezember 1917 und aufgewachsen in Köln streunte Böll als Schüler gern umher, erkundete seine Stadt, ging lieber – wie er es später nannte – in die „Straßenschule“ als in die ­–ormale. Doch sein geliebtes Umfeld wurde bald bedroht. Anfang der 1930er Jahre geriet der Tischlereibetrieb des Vaters infolge der Weltwirtschaftskrise in Not. Das führte dazu, dass die Familie häufig den Wohnort wechseln musste. Bedrohung bedeutete die Herrschaft der Nationalsozialisten, die auch das ­Leben auf den Straßen veränderten.

Ablehnung der Nationalsozialisten: 1938 schrieb Heinrich Böll ein “NS-Credo”

Bölls Eltern verachteten die Nazis, auch aufgrund ihrer katho­lischen Prägung. Die Mutter hatte nur beißenden Spott für sie übrig. Ebenso Böll. 1938 schrieb er, 20-jährig – angelehnt an das christliche Glaubensbekenntnis – ein sogenanntes „NS-Credo“. Darin heißt es: „Ich glaube an den einen Führer, den allmächtigen Vater der Deutschen und an den einen Herrn Hermann Göring, des Führers treuer Folger, Arsch vom Arsch, wahrer NS vom wahren NS. Ich glaube an den Joseph Goebbels, den großen Geist und Kulturspender, der vom Führer und vom Satan ausgeht.“

Heinrich Böll nahm 1983 am Protest gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Mutlangen teil
Heinrich Böll nahm 1983 am Protest gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Mutlangen teilImago / Sommer

Der Zerstörung von Bölls Milieu folgte der Zweite Weltkrieg, den er sechs Jahre als einfacher Soldat ertragen musste. Aufrecht erhielt ihn in dieser Zeit, wie er seiner Frau Annemarie schrieb, die feste Überzeugung, „dass wir aufgespart werden für einen anderen Krieg, für einen anderen Kampf, den um die Wahrheit und Wirklichkeit des Kreuzes. Mein Leben soll keinen anderen Sinn haben, als für Christus, für das Kreuz zu leben und zu arbeiten“.

Früh schon hatte Böll die Bedeutung des Kreuzes betont, ebenso die Würde und den Wert des so sym­bolisierten Leidens. Im leidenden Menschen sah er die Verbindung mit Christus und dessen Kreuz. Bestärkt wurde er in dieser Haltung durch die Lektüre von „Das Blut der Armen“ des katholischen Schriftstellers Leon Bloy. Diese befreite ihn als 19-Jährigen aus einer schweren seelischen und religiösen Krise. Bloys Ver­teidigung der Armut unter Hinweis auf die Armut Gottes in Christus war zugleich ein wütender Angriff auf bürgerliche Behaglichkeit und Mittelmäßigkeit. Und auf die Amtskirche.

Böll identifizierte sich mit der Schrift und verfasste, inhaltlich und im Duktus ähnlich, eine Proklamation mit dem Titel „Gegen die Ahnungslosen“, die Leugner der Not. Er schrieb: „Wir wollen die blutigen Schlachtbänke des Elends besuchen. Wir wollen das große Schleimfass der süßlichen Predigtbücher anzapfen, die aus der Bibel eine scheußliche Phrasensuppe kochen, die dem Panzer der ordentlichen Leute eine geheimnisvolle Stärke gibt.“

Roman “Kreuz ohne Liebe”: Jesus als Opfer der Gerechtigkeit

Böll beklagte, dass für viele Christen der Glaube mehr ein Zierrat der bürgerlichen Existenz war als ein Aufruf zum Sinneswandel und zum aktiven Mitleid mit den Notleidenden. In seinem ersten nach dem Krieg geschriebenen Roman „Kreuz ohne Liebe“ (2002 posthum erschienen) finden sich deutliche Anklänge an die „Proklamation“. Darin sagt ein durch Gestapohaft und Krieg gegangener Mann: „Wir haben die blutigen Schlachtbänke des Elends besucht und wir haben den Tod gesehen. Immer, wenn wir heimkehrten aus diesen Abgründen des Entsetzens, sahen wir in die Augen dieser fröhlichen Dummköpfe, die die Armut und das Elend leugnen, deren Augen verhüllt sind von einem Schleim der Mittelmäßigkeit. Sie kennen keinen Glauben und keine Hingabe, und wenn sie sich Christen nennen, so wollen wir ihnen nicht glauben; sie verkaufen Gott nicht einmal, sie umgehen ihn. Wir aber wollen nie vergessen, daß Jesus Christus gekreuzigt worden ist als Opfer der Gerechtigkeit dieser Welt und daß wir leben für IHN.“

Bölls Nachkriegsroman „Kreuz ohne Liebe“ erschien erst einige Jahre nach seinem Tod im Jahr 1985. So drang sein Hass auf die Mittelmäßigen, die das Leid nicht sehen wollen, nicht nach außen. Auch der Kampf für Christus und das Kreuz, den er als seine Lebensaufgabe ansah, blieb verborgen. In seinen Romanen und Erzählungen beschrieb er zunächst die Folgen des Krieges und das Leben in den Trümmern: den realen wie den geistig-seelischen.

 

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Zu dieser Verfassung passte in Bölls Augen nicht der rasche Wiederaufbau, die scheinbar erzwungene Rückkehr zur Normalität auf den Straßen und in der Gesellschaft. Damit sollten Leid und Not zugedeckt oder verdrängt werden. Seine Irritation darüber beschrieb er so: „Wir waren alle müde, wir waren krank, wir waren kaputt.

Und dann kam plötzlich diese bürgerliche Perfektheit – eine Gesellschaft, in der der Besitz etwas gänzlich Unantast­bares ist, als etwas ganz Heiliges verehrt wird.“ Für Böll war das eine Fassadenwelt, hinter der sich die Mittel­mäßigen, deren Mentalität ihm zuwider war, verbargen. Hinter der Gedanken und Verhaltensweisen, die in der NS-Zeit geprägt wurden, fortlebten.Und NS-Kader und -Verbrecher, die in Politik und Verwaltung unter­gekommen waren. Jene, die sein Leben und das so vieler anderer zerstört hatten. Sie hatten das Hakenkreuz an die Stelle des Kreuzes Christi gesetzt.

Christliches Kreuz als Ausdruck der Solidarität Gottes

Für Böll war das christliche Kreuz Ausdruck der Soli­darität Gottes mit den Menschen. Heimatlose, stets Unruhige waren sie für ihn, das Leid gehörte zu ihrem Leben dazu. Denen, die es ihnen zufügten, stellte er sich in den Weg. Wandte sich als Moralist gegen alles, was er als menschenverachtend einschätzte – in Deutschland ebenso wie anderswo. Nahezu atemlos in politischen Kommentaren und Aktionen, viel mehr noch als in seinen literarischen Arbeiten.

Sein Herz schlug für Menschen der Trümmerzeit Heinrich Böll hat die Zerstörung seiner Kindheits- und Jugendwelt nie verwunden. Sein Schreiben und Tun war eine Verteidigung der Kindheit. Er hatte Sympathie für die Verweigerung gegenüber einer sich uniformierenden Gesellschaft. Und wurde zum Anwalt der von ihr beiseite Geschobenen, der Betrogenen und Unterdrückten. Dabei neigte er zu Selbstgerechtigkeit und Schwarz- Weiß-Malerei. Im Grunde schlug sein Herz für die Gestalten der Trümmerzeit. Sie darzustellen, gelang ihm auch literarisch am besten. Als sich das Land und die Menschen mehr und mehr veränderten, fühlte er sich zunehmend fremd. In seine Werke zogen sentimentale und larmoyante Töne ein.

Gegen Ende seines Lebens hatte Heinrich Böll in Bezug auf die Gesellschaft resigniert. Geblieben war ihm sein Glaube. Bestattet wurde er vor 40 Jahren von dem befreundeten Priester Herbert Falken. Der sagte über Böll in einer Predigt: „Kurz vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus zeigte er mir wieder einmal mit zitternden und streichelnden Händen sein Kreuz, das er auf dem Schreibtisch stets vor sich hatte. In seinem Rücken hing ein Christusbild. Neben dem sterbenden Böll fand ich die Bibel.“

Lesetipp: Gerade ist der Briefwechsel zwischen Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann „Was machen wir aus unserem Leben?“ erschienen, herausgegeben von Renate Langer. Kiepenheuer & Witsch, Piper und Suhrkamp-Verlag, Köln, München und Berlin 2025, 485 Seiten, 44 Euro.