Seine Verse treffen heute noch bei vielen einen Nerv und werden auf Instagram zitiert, Popstar Lady Gaga ließ sich Zeilen von ihm auf den Oberarm tätowieren: Rainer Maria Rilke (1875-1926), geboren vor 150 Jahren, ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Dichter.
Sein virtuoser Umgang mit Sprache begeisterte schon viele Zeitgenossen, sein Leben aber war dominiert vom Gefühl der Angst. „Dichter der Angst“, hat der Literaturwissenschaftler Manfred Koch seine Rilke-Biografie genannt. „Ich führe seine lebenslange Angststörung auf die Beziehung zu seiner Mutter zurück“, schreibt Koch.
Als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke kam er am 4. Dezember 1875 in Prag zur Welt. Seine Mutter drängte ihn in die Rolle der früh verstorbenen Schwester und erzog ihn bis zu seinem sechsten Lebensjahr als Mädchen. Als die Ehe der Eltern zerbrach, war er neun.
„Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein“, schrieb Rilke noch 1915. Da nannte er sich bereits Rainer Maria, seine Geliebte, die Intellektuelle und Literatin Lou Andreas-Salomé, hatte den Vornamen verkürzt. Im Jahr 1910 erschien sein lyrischer Angst-Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“: Tagebuch einer Existenz stets am Rande des Untergangs inmitten des angsteinflößenden Molochs Paris.
Dort hatte sich Rilke zuvor als Sekretär des Bildhauers Auguste Rodin niedergelassen – nur zwischenzeitlich, wie immer bei ihm, Rilke war zeitlebens unterwegs. In Paris fand er auch die Inspiration zu einem seiner meistzitierten Gedichte vom Panther hinter Zoogittern, dem „ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt“.
Nach seiner traumatischen Offiziersausbildung an der Militärrealschule in St. Pölten und seinem Studium in Prag und München war Rilke seit 1897 quer durch Europa gereist. In Berlin-Schmargendorf lebte er nahe Lou und deren Ehemann, reiste mit ihr auch zweimal nach Russland.
In Bremen heiratete er 1901 die erfolgreiche Bildhauerin Clara Westhoff aus der Künstlerkolonie Worpswede, wurde Vater seiner Tochter Ruth, trennte sich und war doch bis zu seinem Tod mit Clara verheiratet, trieb von einer Affäre zur nächsten, blieb allen gut Freund und suchte immer wieder Mäzene und Mäzeninnen, die ihm das Dichten und Dasein finanzierten.
Die fand er vorzüglich im höheren Adel, nach dem sich seine Mutter so gesehnt hatte. Von „Muttervergiftung“ schreibt Koch, von „Wahlmüttern“ in seinem Leben Sandra Richter, Direktorin des Marbacher Literaturarchivs und ebenfalls Rilke-Biografin. Prinzessin Marie von Thurn und Taxis holte den heimat- und ruhelosen Dichter 1912 auf ihr Schloss Duino nahe Triest an der Adria.
Hier begann er die ersten beiden „Duineser Elegien“ zu schreiben, eine Sammlung von Klagegedichten: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“. 1912 erschien auch eine Neuausgabe seiner lyrischen Erzählung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ als Nummer 1 der renommierten Insel-Bücherei. Sie wurde sofort zum Bestseller.
Der Erste Weltkrieg stürzte ihn in eine Schaffenskrise, aus der er erst 1922 herausfand. Auf einer Vortragsreise nach Zürich hatte er die gastliche Schweiz kennengelernt, in Nanny Wunderly-Volkart eine neue Mäzenin und in deren Cousin Werner Reinhart einen großzügigen Hausherrn des Schlosses Muzot bei Siders im Wallis.
Hier, im Schlossturm, vollendete Rilke im Februar 1922 sein Hauptwerk: die zehn „Duineser Elegien“ nebst dem zweiteiligen Zyklus „Sonette an Orpheus“. Es ist nach einem Jugendwerk, das aus der Sicht von Kritikern auch manch kitschigen Vers enthält, reife Lyrik, mit der sich der Dichter einen antichristlichen „Weltinnenraum“ schuf: Schutz- und Trutzburg gegen die Zumutungen seiner Angstdämonen, Lebensbejahung und Todesbejahung in einem.
Der Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini warnte: „Dieser konsequenteste aller Individualisten löst die Personalität auf.“ In die zurückbleibende Leere ströme Totalitäres ein, schrieb Guardini im Nachwort zu seiner Interpretation der „Duineser Elegien“. „Diese saugende Leere offenbart sich in der Dichtung Rilkes – eines Menschen, dem an sich jede Diktatur ein Grauen sein musste.“
Guardini konnte 1941 noch nicht wissen, wie recht er hatte. Erst 1957 erschienen die „Mailänder Briefe“, in denen sich Rilke in seinem Todesjahr 1926 zu Mussolinis Faschismus bekannt hatte. Der Dichter verwarf darin die Ideen von Freiheit und Humanität und akzeptierte auch Gewalt und vorübergehende Freiheitsberaubung.
„Die politischen Konsequenzen des sich in den 1920er Jahren erst entfaltenden Faschismus hat Rilke wohl ignoriert, spät oder nicht mehr gesehen – oder nicht sehen wollen“, erklärt Sandra Richter vom Literaturarchiv Marbach. Und Koch urteilt: „Er war schlicht politisch ahnungslos, bezog politische Positionen rein aus dem Gefühl heraus.“
Am 29. Dezember 1926 ist Rainer Maria Rilke im Sanatorium Valmont bei Montreux an Leukämie gestorben. Begraben wurde er nach seinem Willen auf dem Kirchhof von Rarogne im Wallis. Die Inschrift für seinen Grabstein hatte er selbst verfasst: „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust / Niemandes Schlaf zu sein unter soviel / Lidern“.