100 Jahre Zauberberg: “Da geht es zu wie heute in einer Talkshow”
Zwölf Jahre lang hat Thomas Mann an diesem Roman gearbeitet: von 1912, als seine Frau Katia im Lungensanatorium in Davos war, bis 1924, als „Der Zauberberg“ am 28. November in zwei Bänden im Verlag Samuel Fischer erschien. Darin besucht der junge Hans Castorp seinen kranken Cousin im Sanatorium in der Schweiz. Die Zeit im Gebirge konfrontiert ihn kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit grundlegenden Fragen und verändert sein Leben.
Schon nach vier Jahren erreichte der Roman eine Auflage von 100.000 Exemplaren. 100 Jahre später ist er in 27 Sprachen übersetzt. Davos richtet zum Jubiläum Thomas-Mann-Tage aus, mit Vorträgen, Lesungen und einem Filmfestival. Und Manns Geburtsstadt Lübeck und das dortige Buddenbrookhaus feiern ihn mit einer Ausstellung und einer Kunstinstallation.
Eigentlich hatte Mann nur einen „kleinen Roman“ als „humoristisches Gegenstück“ zu der Novelle „Tod in Venedig“ geplant. Tatsächlich brauchte er 1.200 Seiten. „Er fuhr auf Besuch für drei Wochen“, heißt es im ersten Absatz über seinen Helden Castorp. So lange hatte Mann selbst Katia besucht und sich Notizen gemacht.
Doch seinen Castorp bannt er für ganze sieben Jahre in das Sanatorium „Berghof“. In dieser Zeit lernt der Protagonist als „Weltkind in der Mitten“ zwischen seinen Mentoren Naphta, dem jesuitischen Vertreter einer lebensfeindlich-romantischen „Kultur“, und dem Humanisten Settembrini, Inbild westlicher „Zivilisation“, die Gegensätze zu überwinden.
„Da geht es zu wie heute in einer Talkshow“, sagt Caren Heuer. Sie ist Direktorin des Buddenbrookhauses in Lübeck und Kuratorin der „Zauberberg“-Ausstellung, die bis zum 1. März 2025 im dortigen St. Annen Museum zu sehen ist. „Die Themen gehen uns unverändert an: Glauben, Wissenschaft, Gefühle in der Politik. Das ist total gefährlich. Castorp hört zu und schweigt, wie heute das Publikum.“
Als der Roman erschien, lagen auch hinter Thomas Mann Jahre voller innerer Kämpfe und Zerrissenheit zwischen deutscher „Kultur“ und westlicher „Zivilisation“ – denn so teilte Mann in der Tradition Nietzsches die Welt ein. Das Begriffspaar ist vom damaligen Zeitgeist geprägt, dunkle Seelentiefe contra lebensfreundliche Humanität.
Wie aus seinen Tagebüchern hervorgeht, kehrte der Autor Anfang Februar 1921 nach Davos zurück. Eine Wanderung auf die Schatzalp inspirierte ihn zum zentralen „Schnee“-Kapitel im „Zauberberg“, in dem Castorp der rückwärtsgewandten Romantik nach Nietzsches Muster von „Kreuz, Tod und Gruft“ abschwört. Im Schneetreiben halluziniert er eine archaische Opferszene, die ihn zur Besinnung bringt: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“
Bis zu diesem Bekenntnis war es auch für Mann ein weiter, schmerzhafter Weg. „Keine Metamorphose des Geistes ist uns besser vertraut als die, an deren Anfang die Sympathie mit dem Tode, an deren Ende der Entschluss zum Lebensdienste steht“, hatte er im Oktober 1922 in seiner Rede „Von Deutscher Republik“ gesagt, was ihm von reaktionärer Seite den Vorwurf des Verrats eintrug.
Schließlich hatte er im Oktober 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, noch die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ publiziert und sich mit diesem Pamphlet über 600 Seiten zum reaktionären Lager bekannt. „Thomas Mann fühlte sich damals in der schillernden Welt der Rechten, die man hernach ‘vorfaschistisch’ nannte, ganz zu Haus“, schrieb der Publizist Klaus Harpprecht in seiner Thomas-Mann-Biografie.
Und nun warnte er plötzlich vor dem „sentimentalen Obskurantismus, der sich zum Terror“ organisiere? „Obskurantismus“, damit meinte er irrationales, antiaufklärerisches Verhalten, verschleierndes Dunkelmännertum. Thomas Mann war aufgewacht, als Reichsaußenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922 von Rechtsradikalen ermordet wurde. In seinem Essay „Goethe und Tolstoi“ nannte Mann 1923 das „völkische Heidentum“ in Deutschland eine „romantische Barbarei“.
Sein Naphta im „Zauberberg“ war so ein lebensfeindlicher „Obskurantist“ – ein Bote des Todes wie die Russin Clawdia Chauchat, der Castorp erotisch verfällt. Aber auch Settembrini kann nur abstrakt über Zivilisation und Humanität schwadronieren. Erst mit dem Kaufmann Mynheer Peeperkorn zieht Lebenskraft ins Sanatorium ein. Hans Castorp aber endet auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs.
„Das Werk lebt fort aus dem Zauber der Erzählung, der Lust am Detail, dem Spiel der Bezüge, der unbesiegbaren Geduld des Erzählers“, resümierte Biograf Harpprecht.
Eine „erschreckende Gegenwärtigkeit“ sieht Caren Heuer vor allem in der „großen Gereiztheit“ der beiden politischen Agitatoren Naphta und Settembrini, „die auch über die Legitimität von Gewalt als politischem Mittel diskutieren“. Ihre Ausstellung vollzieht an sieben Stationen Castorps sieben Lehrjahre auf der Suche nach der Mitte zwischen allen Extremismen nach. Heuer sagt: „Wir brauchen mehr Castorps.“