Es gibt Sätze, da ahnt man im Moment ihres Aussprechens nicht, welche ungeheure Wirkung sie entfalten werden. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ ist so ein Satz. Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender der DDR, sprach ihn 1961 – kurz darauf wurde die Mauer gebaut, Symbol der Teilung Deutschlands. „I have a dream“ ist so ein Satz. Martin Luther King entflammte 1963 damit eine weltweite Bewegung für Gleichberechtigung und Hoffnung. „Ich bin ein Berliner“ ist so ein Satz. John F. Kennedy rief ihn im selben Jahr aus und stiftete in Zeiten des Kalten Kriegs Identität und Trost.
Und dann gibt es noch den Satz, mit dem die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel wohl auf ewig in die Geschichtsschreibung eingegangen ist: „Wir schaffen das.“ Eine Bemerkung, fast beiläufig ausgesprochen – und doch zündeten diese Worte sofort, setzten eine Kettenreaktion in Gang. Sie entfachten Hoffnung und Zuversicht, Widerstand und Zweifel. Sie wurden zum Kristallisationspunkt erbitterter Debatten und markieren bis heute einen Wendepunkt im Selbstverständnis unseres Landes. Und vielleicht spalteten sie auch das Land.
Höhepunkt der Flüchtlingskrise
Merkels Satz entstand im Sommer 2015, als Deutschland auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise stand. Das berühmte „Wir“ bezog sich bewusst auf die Gesellschaft als Ganzes – Politik, Verwaltung, Bürgerinnen und Bürger. Die spontane Bereitschaft zu helfen war beeindruckend. Genauso wie die Welle der Kritik.
Was bleibt zehn Jahre später von „Wir schaffen das“? Vieles wurde geschafft: Viele Geflüchtete fanden eine neue Heimat, Integration in Arbeit und Bildung gelang oft, wenn auch nicht überall. Doch besonders bei Frauen und der gesellschaftlichen Teilhabe bleiben viele Hürden. Die Rückführung abgelehnter Asylbewerber ist weiterhin ungelöst, Sorgen um die Sicherheit auf den Straßen begleiten die Debatte. Nicht zuletzt spiegelt sich gesellschaftliche Spaltung auch im Erfolg der AfD – wenn auch deren Aufstieg nicht allein durch das Thema Migration erklärbar ist, sondern ebenso durch eine generelle Unzufriedenheit mit Politik und Krisenbewältigung.
Haltung Helfender wird hinterfragt
Diese Entwicklung fordert nicht nur Politik und Gesellschaft heraus, sondern trifft besonders auch die Kirchen und alle, die sich aus christlichem Glauben heraus engagiert haben. Denn sie standen und stehen oft auf der Seite von Geflüchteten – und erleben nun, dass ihre Haltung stärker hinterfragt wird. Darum stellt sich heute umso eindringlicher die Frage: Haben wir die Widerstände, Ängste und die Begrenztheit gesellschaftlicher Akzeptanz unterschätzt? Reicht Optimismus allein aus, oder braucht es einen anderen Blick auf Herausforderungen und Begrenzungen – und eine neue Form von Hoffnung, die auch Zweifeln und Scheitern standhält?
Reicht es auch, im Brustton der Überzeugung zu behaupten: „Wir schaffen das“, wenn man anschließend nicht in der Lage ist, entsprechend Mittel zur Verfügung zu stellen, damit Aufnahme und Integration gelingen können? Wenn man aktuell mehr als ein Drittel der Bevölkerung nicht dafür gewinnen kann?
Kirche könnte hier wirken
Hier eröffnet sich ein Raum, in dem Christinnen und Christen, in dem die Kirche wirken können: nicht als politische Problemlöser, sondern als Stimme der Hoffnung, des tieferen Nachdenkens und der Erinnerung an Maßstäbe, die über Tagespolitik hinausreichen. Nächstenliebe ist kein romantisches Zusatzprogramm, sie ist Kern christlichen Glaubens. Sie verlangt aber auch Realismus und Verantwortung – sowohl gegenüber Schutzsuchenden als auch gegenüber Belastungen Einheimischer.
Hoffnung rechnet mit Zweifeln und Widerständen
Merkels „Wir schaffen das“ lehrt im Nachhinein, dass Hoffnung keine naive Siegesgewissheit ist. Sie rechnet mit Zweifeln, Widerständen und Grenzen – und hält trotzdem daran fest, dass Versöhnung und Zusammenhalt möglich sind. „Schaffen“ heißt in diesem Sinn nicht, alles perfekt zu meistern, sondern: Schritte zu wagen – und auch bereit zu sein, Kurs zu korrigieren, wenn die Realität nicht unseren Wünschen entspricht.
Vielleicht ist gerade das die Botschaft der vergangenen zehn Jahre: dass wir nicht aus eigener Perfektion heraus etwas „schaffen“, sondern darauf vertrauen dürfen, getragen zu sein – auch in Scheitern und Begrenzungen.
