Demenz: Als das Leben Lücken bekam

Katrin Seyferts Ehemann war Arzt und stand mitten im Leben. Dann kam die Diagnose Alzheimer. Wie sie als Familie die fünf Jahre bis zu seinem frühen Tod erlebt haben, schildert sie in ihrem Buch.

Demenz und Alzheimer treffen nicht nur alte Menschen
Demenz und Alzheimer treffen nicht nur alte MenschenImago / Pond5 Images

Mehr als 100.000 Menschen im Alter zwischen 45 und 64 Jahren leben in Deutschland nach Angaben der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft mit einer Demenz. Einer von ihnen war Katrin Seyferts Ehemann Marc. War er vorher immer der Starke, musste sie ab diesem Zeitpunkt sein Leben mitleben, organisieren und selbst sein Sterben in seinem Sinne planen. Davon erzählt die freie Journalistin in ihrem Erfahrungsbericht „Lückenleben“.

Kurz nach dem 50. Geburtstag ihres Ehemannes stellt die Autorin fest, dass etwas nicht stimmt. Sie findet immer wieder Zettel mit Selbstverständlichkeiten wie „Zehn Brötchen kaufen“ oder „16 Uhr Fußballtraining“. Bis zur Diagnose vergehen zwei Jahre. „Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen, und wenn das meine Krankheit sein soll, dann bin ich bereit, sie anzunehmen“, sagt der Facharzt für Nierenleiden und beendet seine Berufstätigkeit.

Humor hat dafür gesorgt, dass niemand durchdreht

Am Tag nach der endgültigen Diagnose kauft die Familie einen Hund, den sich Marc schon immer gewünscht hatte. Und dann suchen sie einen Arzt, mit dem sie zusammenarbeiten wollen, was dauert. „Wenn man eine Krankheit hat, die man ohnehin nicht heilen kann, wird der Menschlichkeitsfaktor zur einzigen Größe.“

Humor habe dafür gesorgt, dass niemand durchdrehte, erinnert sich Seyfert: „Dass wir über seine Krankheit reden dürfen, ja sogar scherzen, ist das größte Geschenk, dass er mir in seiner Versehrtheit machen kann.“ Gleichzeitig legt Seyfert Listen an, holt einen jungen Mann zur Hilfe ins Haus und versucht das Leben als berufstätige Mutter von drei Kindern und Ehefrau eines kranken Mannes zu bewältigen.

„Ich kann meinen Mann anmaunzen und ihn lieben“

„Wie kann man einen Mann lieben, der das Danken verlernt hat? Der nichts mehr zurückgeben kann?“, fragt Seyfert. Sie lernt, mit Widersprüchen zu leben. „Ich kann meinen Mann ungeduldig anmaunzen und ihn lieben. Ich kann verzweifelt sein, wenn ich ihn suche, und mich freuen, wenn ich ihn finde.“

Marc Seyfert beginnt zu schnitzen – und zwar mit Hingabe. Die Familie stellt dann mit seinen Werken eine kleine Ausstellung zusammen. „Marc verlor sein Hirn und gewann im gleichen Maße Kreativität und Gleichmut. Er erklärte uns ohne Worte, was seine Krankheit ist. Und solange er so zu uns sprechen konnte, war alles gut.“ Und dann bleiben die Stöcke irgendwann nur noch Stöcke.

Man lebt weiter, und der Partner muss sterben

„Trauer um einen toten Menschen kennt viele Rituale, die durch die Gemeinschaft tröstend wirken“, sagt die Journalistin. Sie durchlebt eine prämortale Trauer, als ihr Mann nach fünf Jahren Alzheimer in eine Art Zwischenreich entschwindet – „ein sterblicher Überrest mit Vitalfunktion“. In der Zeit morgens zwischen dem Weckerklingeln und dem Aufstehen trauert sie im Futur II: Ich werde meinen Mann verloren haben. Hinzu kommen Schuldgefühle – man lebt weiter, und der Partner muss sterben.

Ein weiterer Punkt: Geldsorgen. Die Autorin rechnet vor, wieviel Geld man braucht, um den Eigenanteil für eine Heimunterbringung zu stemmen. Denn die Familie muss weiterhin wohnen, essen, leben und sich kleiden können. „Zu dem Ärger, den man als Begleiter Kranker an der Backe hat, gehört neben dem Aushalten des Entschwindens, neben einer ehelichen Einsamkeit auch eine finanzielle Einsamkeit“, stellt Seyfert fest.

Wenig, wovor sie sich fürchtet

Eine unerwünschte Begleiterscheinung sei der Hochmut, muss Seyfert konstatieren. „Wir Angehörigen fühlen uns anderen Menschen mit ihren Minderproblemen, mit ihrer Minderleistungsfähigkeit, mit ihrer Rührseligkeit manchmal überlegen.“ Ihrem Mann gegenüber aber habe sie das Gefühl von Hochmuts und Überlegenheit nicht gefühlt, so die Journalistin. „Weil er ein Land bereist, das ich noch nicht betreten habe.“ Mittlerweile sagt sie, gebe es nur noch wenige Dinge, vor denen sie sich fürchte. „Einfach weil wir das Fürchterlichste schon überstanden hatten.“

Eines Tages war es dann soweit, ihr Mann musste ins Heim, und das Ende kam für ihn schneller als erwartet. Für Katrin Seyfert begann eine neue Herausforderung: Witwe sein. Sie sah sich mit Konventionen konfrontiert, die von dem jeweiligen Gegenüber heftig eingefordert wurden, ohne dass sie ihr entsprachen. Was sie ebenfalls irritierte: Darf man über Krankheit, Sterben und Tod öffentlich reden – oder ist das tabu? Besonders dann, wenn man meint, diese existenziellen Herausforderungen erfolgreich gemeistert zu haben?

Die Familie lernt, mit der Trauer zu leben: „Papa hätte es so gewollt. Aus diesen fünf Wörtern formt sich im Laufe der Monate ein unsichtbarer Geist, der uns beschützt und der uns hilft zu leben. Und wir tun viel, um diesen Geist nie wieder des Hauses zu verweisen.“

Katrin Seyfert ist das Pseudonym einer freien Journalistin. Sie benutzt diesen Namen, weil die Perspektive der Witwe nach ihren Angaben nur einen Teil ihres Schreibens bestimmt.