Zwischen Geschwistern

Über Brüder, Schwestern und Familie macht sich Pastor Tilman Baier Gedanken. Er ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV.

Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Jesus sprach: „Wer den Willen Gottes tut, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ aus Markus 3, 31-35
Immer war sie für ihren Bruder da gewesen, auch wenn er, der Quartalstrinker, wieder einmal eine seiner Absturzphasen hatte und dann um sich schlug. Nun saß sie beim Beerdigungsgespräch und sagte: „Er war doch meine Familie. Blut ist eben dicker als Wasser.“
Oft hatte ich diesen Spruch schon gehört, aber hier stutzte ich das erste Mal: Blut – ja, das steht für die engen Bande der Familie, in die man hineingeboren wird. Aber wieso Wasser? Die Erklärungsversuche, die ich daraufhin im Internet fand, waren noch dünner als H²O. Doch irgendwann stieß ich auf eine Vermutung, die mir noch am ehesten einleuchtete: Mit dem Wasser sei das Taufwasser gemeint, das hineinnimmt in eine neue Familie, in die Gemeinschaft der Schwestern und Brüder im Geist Christi. Bei diesem Sprichwort gehe es also, so die Hypothese, um ein Gegeneinander von biologischer und geistiger Verwandtschaft.
Jesus selbst, so berichtet das Markusevangelium, hat in dieser Frage sehr klar und radikal Stellung bezogen. Gerade erst hatte er seine engsten Vertrauten, die Jünger, berufen und angefangen, seine Lehren zu verbreiten. Da erscheinen auch schon, peinlich berührt, seine leiblichen Schwestern und Brüder und versuchen, ihn nach Hause zu holen. Sie fürchten, er sei verrückt geworden. Doch Jesus erteilt ihnen eine Abfuhr: Nicht sie seien seine Familie, sondern diejenigen, die sich um ihn geschart haben, „die den Willen Gottes tun“. Das klingt, wie heute noch obskure Gurus und Vorsteher von Sekten reden.
Doch auch wenn vielen von uns diese Radikalität fremd ist – in den Zeiten, wo wieder das Geraune von Blut und Stamm und „biologisch Deutschen“ zunimmt, ist es gut, sich daran zu erinnern: Durch diesen Jesus und durch das Wasser der Taufe haben wir Schwestern und Brüder, in aller Welt und nebenan, gleich welcher Rasse und sozialen Herkunft. Hilfreich könnte dabei eine Neubelebung einer Tradition unter Christen sein, die heute fast nur noch in Freikirchen oder der älteren Pastorenschaft üblich ist – die gegenseitige Anrede als Schwester und Bruder im selben Geist.
Unser Autor
Pastor Tilman Baie
r ist Chefredakteur der Evangelischen Zeitung und der Kirchenzeitung MV.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.