Zwei Welten

Die evangelische Gehörlosenseelsorge stellt sich ihrer Verantwortung gegenüber der eigenen Geschichte. Und sie wünscht, dass ihre Arbeit auch in Zukunft abgesichert bleibt

Im vergangenen Herbst hat die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Gehörlosenseelsorge eine Schulderklärung zum Verhalten ihrer Vorgängerorganisation während der Zeit des Nationalsozialismus verfasst. Dabei ging es vor allem um die Zwangssterilisationen gehörloser Menschen (siehe Kasten unten). Erinnerung und Mahnung zugleich soll das Papier nach Willen der Initiatoren sein. Über die Schuld-erklärung und über gegenwärtige Herausforderungen der Gehörlosenseelsorge sprach Annemarie Heibrock mit Christian Schröder, dem Beauftragten für Gehörlosenseelsorge der Evangelischen Kirche von Westfalen.

Von der Schulderklärung aus dem vergangenen Jahr ist in der Öffentlichkeit kaum etwas angekommen. Führt die Gehörlosenseelsorge ein Schattendasein im Bereich der Kirche?
Da ist sicher was dran. Und das hat mit zwei Faktoren zu tun: Erstens handelt es sich bei den Gehörlosen um eine sehr kleine Gruppe. Nur etwa jeder tausendste Mensch in Deutschland ist gehörlos. Und zweitens erreichen wir mit unseren Angeboten in Gebärdensprache wegen der Sprachbarrieren ja nur Menschen, die diese Sprache beherrschen. Daher werden wir von der hörenden Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Wie ist es zu der Schulderklärung gekommen, so viele Jahre nach Ende des Nationalsozialismus?
Das Thema lag schon seit geraumer Zeit in der Luft. Konkreter Anlass aber war der 80. Jahrestag der Veröffentlichung des Merkblatts, in dem Gehörlose aufgefordert wurden, sich sterilisieren zu lassen. Eine Kollegin aus unserem Dachverband hat sich aus diesem Anlass intensiv mit den historischen Hintergründen befasst.

Gibt es noch überlebende Gehörlose, die von der Zwangssterilisation betroffen waren?
Das sind nur noch Einzelne. Die aber sind den Gehörlosenseelsorgern persönlich bekannt und wurden entsprechend auch von der Schulderklärung erreicht. Ebenso wie auch manche Angehörige. Aber die Schulderklärung richtet sich als Mahnung ja auch an die ganze Gesellschaft.

Wie steht es denn heute um die Gehörlosen in unserer Gesellschaft? Sind sie akzeptiert?
Durch die gesetzliche Anerkennung der Gebärdensprache vor etwa 15 Jahren ist die Akzeptanz der Gehörlosen, ihrer Sprache und ihrer Kultur deutlich gewachsen. Ein gutes Zeichen ist auch, dass inzwischen fast jede Volkshochschule Kurse in Gebärdensprache anbietet und dass diese auch angenommen werden. Eine tolle Entwicklung, wie ich finde. Dennoch gibt es weiterhin ständige Kommunikationsbarrieren im Alltag Gehörloser. Wer Gehörlose kennt – in der Familie oder am Arbeitsplatz –, stellt sich darauf ein, viele andere aber wenden sich – teils aus Unsicherheit – ab. In dieser Hinsicht ist in unserer Gesellschaft sicher noch Luft nach oben. Wir haben mit dem Nationalsozialismus ein schwieriges geschichtliches Erbe. Diese Prägung im Umgang mit Behinderten ist bis heute spürbar. In dieser Hinsicht haben wir in Deutschland auch eine besondere Verantwortung.

In den Medien – so jedenfalls scheint es – sind Gebärdensprachdolmetscher heute präsenter denn je, etwa bei Nachrichtensendungen. Auch die Zahl der Untertitelungen bei Spielfilmen wächst…
Ja, das stimmt. Da gibt es sicher Fortschritte. Aber wir sind längst nicht so weit wie wir sein sollten.

Wie sieht es mit der Chancengleichheit im Bezug auf die Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt aus?
Auch da gilt: Es hat sich ganz, ganz viel entwickelt, die Zahl der Akademikerinnen und Akademiker unter den Gehörlosen wächst. Echte Chancengleichheit ist jedoch noch nicht hergestellt. Wer als Gehörloser arbeitslos wird, hat oft sehr große Schwierigkeiten, wieder einen Job zu finden. Viele potenzielle Arbeitgeber, die noch keine Erfahrungen mit Gehörlosen gemacht haben, scheuen sich wegen der befürchteten Kommunikationsschwierigkeiten.

Was tut die Gehörlosenseelsorge für die Betroffenen – außer sich, wie der Name sagt, um die Seelen zu kümmern?
Unsere Hauptaufgabe ist es, den Gehörlosen Kirche in ihrer eigenen Sprache anzubieten. Kirche mit allem, was dazugehört: Gottesdienste, Kasualien von der Wiege bis zur Bahre, Seelsorge, Kultur, Spiritualität, Bildung. Es würde nicht helfen, wenn wir in „normalen“ Gottesdiensten einen Gebärdensprachdolmetscher neben den Prediger/die Predigerin stellen würden.

Warum nicht?
Weil sich gehörlose Menschen da nicht zuhause fühlen. Und zwar nicht nur wegen der (Leer-)Zeiten, in denen nicht gesprochen, sondern vielleicht gesungen und musiziert wird. Gehörlose haben das Bedürfnis, in ihrer eigenen Sprache Kirche zu erleben. In einer Gemeinde von Hörenden fühlen sie sich, selbst wenn etwa bei Beerdigungen oder Taufen in der Familie Gebärdendolmetscher engagiert werden, fremd und ausgegrenzt. Das ist eine Tatsache, die man akzeptieren muss. Auch in der Seelsorge ist eine Situation, in der ein Dolmetscher zwischen dem Pfarrer und dem Gemeindeglied vermittelt, schwer vorstellbar. Es sind eben zwei Welten – die der Hörenden und die der Gehörlosen. Darum ist die eigene Sprache der Gehörlosen auch Grundlage dafür, dass sie sich in ihren eigenen Gemeinden zusammenfinden. 28 sind es in Westfalen und eine in Lippe.

Das heißt, die Strukturen für eine gelingende Gehörlosenseelsorge sind vorhanden...
Bis jetzt noch. Allerdings gehen in den nächsten Jahren viele der 18 Kolleginnen und Kollegen, die in der westfälischen Gehörlosenseelsorge tätig sind, in den Ruhestand. Wir befürchten,  dass wir langfristig nicht in der Lage sein werden, die Angebote im gewohnten Umfang aufrechtzuerhalten. Deshalb wünschen wir uns erstens Menschen mit Freude an dieser Arbeit und mit der Bereitschaft, sich in Gebärdensprache ausbilden zu lassen, und zweitens Planungssicherheit durch Pfarrstellen für die Gehörlosenseelsorge, die personenunabhängig sind. Immerhin erreichen wir mit Gottesdiensten und Veranstaltungen in den Gehörlosengemeinden bis zu 40 Prozent der Gemeindemitglieder, also deutlich mehr als das in „normalen“ Gemeinden der Fall ist.