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Zwei von 100 Kindern sind hochbegabt – Um Schulnoten geht es nicht

Hochbegabungen erkennen und fördern – das stellt Eltern und Erzieher vor Herausforderungen. Eine Expertin sieht das Schulsystem gefordert: Nicht Alter oder Noten seien die wichtigsten Gradmesser.

Eine Dreijährige, die spricht wie eine Erwachsene; ein Fünfjähriger, der sich intensiv mit Astronomie befasst; ein Teenager, der neben der Schule schon ein Hochschulstudium absolviert. “Hochbegabte Kinder haben im Vergleich zu ihren Altersgenossen überdurchschnittliche kognitive, sprachliche oder mathematische Fähigkeiten”, erklärt Diana Haese, Initiatorin und Leiterin von Begabtenzentren in Berlin, München und Grevenbroich. “Auch die Geschwindigkeit, mit der sie Informationen aufnehmen und verarbeiten, ist erstaunlich.”

Statistisch gesehen gelten etwa zwei von 100 Kindern als hochbegabt. Sie verfügen über einen Intelligenzquotienten von mindestens 130; die meisten Menschen erreichen Werte zwischen 85 und 115. Viele Talente bleiben Haese zufolge aber unerkannt und erhalten keine angemessene Förderung: Während die Eltern mangels Vergleichsmöglichkeiten das rasante Entwicklungstempo ihres Kindes für normal hielten, fehle es den meisten Erziehern an den nötigen Kenntnissen.

“Klarheit über eine Hochbegabung kann man nur erhalten, wenn man die besonderen Fähigkeiten des Kindes wahrnimmt und es einem speziellen, wissenschaftlich normierten Intelligenztest unterzieht”, betont Haese. Dann könnten sowohl Hoch- als auch Teilbegabungen – etwa auf musischem oder mathematischem Gebiet – eindeutig diagnostiziert werden.

In hervorragenden Schulnoten sieht die Fachfrau, die in den vergangenen 17 Jahren rund 70.000 Testungen durchgeführt hat, allerdings keinen Hinweis auf Hochbegabung. “Die Kinder, die wir als die intelligentesten getestet haben, hatten oft miserable Noten”, erzählt sie. Aufgrund der permanenten Unterforderung und Langeweile im Unterricht entwickelten sich Jungen oft zum Klassenclown oder Störenfried.

Mädchen hingegen würden sich – um nicht aufzufallen – häufig an ihre Altersgenossen anpassen: Die hochbegabte Erstklässlerin, die schon vor der Einschulung fließend lesen konnte, entziffere dann wieder betont langsam Wort für Wort. Manch einer weigere sich vor lauter Verdruss, die Hausaufgaben zu erledigen oder überhaupt weiter in die Schule zu gehen. Körperliche Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen oder psychische Probleme von Depressionen bis zu Suizidgedanken könnten ebenfalls Folge einer unerkannten Hochbegabung sein.

Um dies zu verhindern, plädiert die Fachfrau dafür, jedes Kind auf dem Weg zum Erwachsenwerden mehrmals zu testen; so etwa mit vier Jahren, um eventuell per Gutachten eine vorzeitige Einschulung in die Wege zu leiten, oder vor dem Wechsel in eine weiterführende Schule. Schließlich stehe jedem Kind qua Gesetz eine individuelle Förderung zu.

Für unerlässlich hält Haese es zudem, das Schulsystem flexibler zu gestalten. Zehnjährige, die in Mathematik in die Oberstufe “springen”, um dort Integrale zu berechnen oder Grundschüler, die mit Neuntklässlern Lyrik interpretieren? Für Haese sollte dies problemlos möglich sein. “Letztlich steht und fällt selbst auf einer Schule, die mit der Förderung Hochbegabter wirbt, viel mit der jeweiligen Lehrkraft und ihrem Engagement für besonders kluge Kinder”, hat sie festgestellt. Allerdings werde dem Thema Hochbegabung in der Ausbildung von Lehrkräften zu wenig Beachtung geschenkt.

Dabei sei es für Eltern eine massive Anstrengung, ein hochbegabtes Kind nicht “auszubremsen”, sagt Haese. So müssten Vater oder Mutter ihrem Nachwuchs zum Beispiel ständig neue, komplexe Sachverhalte erklären. “Hochbegabte haben einen enormen Wissensdurst und brauchen oft zwölf bis 16 Stunden am Tag Input”, erläutert die Expertin.

Während es im Normalfall ausreiche, die Kids etwa montags zum Fußballverein und freitags zum Musikunterricht zu fahren, müssten Eltern von Hochbegabten mitunter zwei Aktivitäten pro Nachmittag einplanen. Nur dann werde der Intelligenzquotient – ähnlich einem Muskel – ausreichend trainiert und könne noch um bis zu 15 IQ-Punkte wachsen; andernfalls sei zu fürchten, dass er in gleichem Maß sinke.

Mit Blick auf die Zufriedenheit und das Lebensglück eines besonders intelligenten Menschen sei letzteres nicht zu vertreten, mahnt Haese. Und: “Auch die Gesellschaft braucht hochbegabte Menschen, die die Forschung vorantreiben, neue, umweltfreundliche Techniken entwickeln und vielleicht Mittel gegen Krebs und andere Krankheiten finden.”