Zwei neue Bücher zeigen eine Zeit im Aufbruch
Dreckig, gewalttätig und hoffnungslos rückständig, so stellt man sich das Mittelalter vor. Das Gegenteil war der Fall, wie zwei neue Bücher eindrucksvoll beweisen.
“Das ist ja wie im Mittelalter” – also ganz fürchterlich. Dass das Mittelalter aber auch eine Innovationszeit war und die Grundlage für unsere heutige Zeit bildet, wollen die beiden Historiker Gisela Graichen und Matthias Wemhoff mit ihrem Buch “Gründerzeit 1200” zeigen, das jetzt erschienen ist. Auch der britische Historiker Ian Mortimer vertritt die These, dass das Mittelalter eine unterschätzte Zeit sei. Denn damals durchdrang das Licht das Dunkel – so der Titel seines neuen Buches.
“Um 1200 war alles im Aufbruch, eine Zeit voller Optimismus und Wagemut”, so beschreiben die Historiker Graichen und Wemhoff diese Zeit. Zwischen 1240 und 1300 wurden nach ihren Angaben jedes Jahr auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches etwa 300 neue Städte gegründet. Dazu gehörten neben dem heutigen Deutschland auch Belgien, Niederlande, Teile Frankreichs, Österreich, Schweiz sowie Mittel- und Norditalien.
“Die Gründungsstädte wurden zum Modernisierungsraum, auf dem Land waren die Klöster Kulturinseln, Denkfabriken und Innovationstreiber”, schreibt Gisela Graichen. Mönche, Handwerker und Bürger hätten den Fortschritt erdacht und mit zähem Elan tatsächlich die Grundlagen für das heutige Alltagsleben gelegt.
Dinge, die heute als völlig unverzichtbar gelten, stammen aus dieser Zeit, wie zum Beispiel die Lesebrille. Weil die Gläser aus Glas, Quarz oder Bergkristall, genannt Beryll, waren, wurde diese neue Erfindung Brille genannt, so Graichen. Zuerst waren es nur Lesebrillen, dann folgten auch Brillen gegen Kurzsichtigkeit.
Der englische Historiker Ian Mortimer macht auf eine andere wesentliche mittelalterliche Wiederentdeckung aufmerksam, ohne die wir bis heute nicht wüssten, wie wir aussehen: ein Spiegel. Die Glasspiegel gingen mit der römischen Kultur unter und wurden erst um 1300 in Italien wiederentdeckt.
Davor konnte eine Frau oder auch ein Mann gar nicht wissen, wie er oder sie in den Augen anderer aussah, so Mortimer. Seiner Einschätzung nach führte die rasche Verbreitung von Spiegeln zu einem neuen Selbstverständnis der Menschen. “Sie sahen sich gezwungen, sich mit anderen zu vergleichen, ihr Aussehen und ihr Verhalten zu ändern, sich attraktiver zu machen und so weiter.”
Die Zeit ließ sich jetzt messen. Die Entwicklung der mechanischen Räderuhr wird englischen Mönchen zugeschrieben, so Graichen. Um 1290 verbreitete sich das technische Wunderwerk Uhr dann in Europa. Erst wurde die Zeit nur geschlagen, später kamen Zifferblatt und Zeiger dazu. Und für die Kaufleute wurde das Leben erheblich einfacher mit der Einführung arabischer Zahlen, zu denen auch die Null gehörte, erklärt Gisela Graichen.
Zu den technischen Innovationen gehören auch die Neuerungen in der Landwirtschaft. Weil so mehr Nahrungsmittel produziert werden konnten, waren nach Einschätzung von Graichen erst das enorme Bevölkerungswachstum und die Stadtwirtschaft möglich.
Kirchen und eine Mauer – ohne sie war eine Stadt unvollständig. In diesen Jahrzehnten wurden die gotischen Kathedralen gebaut, die bis heute die Besucher in ihren Bann ziehen, wie zum Beispiel der Kölner Dom. Neben dem 1248 begonnenen Dom hatte die Stadt natürlich auch eine Mauer. Denn nach Angaben von Matthias Wemhoff ist die Stadt des Mittelalters ein klar umgrenzter Raum, es habe ein Drinnen und Draußen gegeben.
Wemhoff erklärt, nach Berechnungen mussten für den Bau der Kölner Stadtmauer über 400.000 Kubikmeter Steinmaterial mit einem Gewicht von über einer Million Tonnen gebrochen und aus erheblicher Entfernung zur Baustelle gebracht werden. Es waren mindestens 10.000 Schifftransporte allein für die Beschaffung des Materials notwendig, so der Historiker, das anschließend mit Karren zu den Baustellen transportiert wurde.
Zu einer Stadt gehörte damals aber nicht nur ein Rathaus, Kirchen und Klöster – auch Bordelle. Frauenhäuser, heute zum Schutz von Frauen vor Gewalt eingerichtet, waren im Mittelalter ein Angebot der Städte für Prostituierte, schreibt Gisela Graichen. Dort waren nach ihren Erkenntnis Betriebszeiten, Einkommen und Abgaben geregelt, bei Krankheit und Erwerbsunfähigkeit wurde für die Frauen gesorgt. Selbst die kleinsten Städte hätten lieber auf ihr Rathaus als auf ein Frauenhaus verzichtet, weil ihnen das bessere Einkünfte bot.
Das Mittelalter war also gar nicht so mittelalterlich, darin sind sich die Historiker einig. “Wir sollten anerkennen, dass seine Errungenschaften genauso großartig sind wie unsere eigenen”, so Ian Mortimer.