Noch immer werden Mädchen auch hierzulande zwangsverheiratet. Sie tauchen nach den Sommerferien nicht mehr in ihrer Klasse auf. Der Verein Terre des Femmes klärt an Schulen auf – und fordert stärkere Präventionsarbeit.
Anna, heute 24 Jahre alt, floh mit 16 Jahren aus ihrem Elternhaus – vor Gewalt und einer drohenden Zwangsheirat. “Der einzige Ort, an den ich mich wenden konnte, war die Schule”, berichtet die junge Frau bei einer Pressekonferenz des Frauenrechtsvereins Terre des Femmes am Dienstag in Berlin. Der Verein klärt gemeinsam mit der Berliner Polizei an Schulen in der Hauptstadt im Rahmen einer “Weißen Woche” über Zwangsheiraten auf. Zwar gebe es keine bundesweiten aktuellen Zahlen, kritisiert Myria Böhmecke, Referatsleiterin bei Terre des Femmes. “Aber wir erfahren durch unsere Präventionsarbeit, dass das Thema nach wie vor aktuell ist.”
In Berlin seien 2022 insgesamt 496 Fälle von versuchter oder erfolgter Zwangsverheiratung bekannt geworden. Die jüngsten bundesweiten Zahlen stammen von 2008; damals waren demnach 3.443 Menschen von Zwangsheirat betroffen oder bedroht. “Wir gehen aber von einer sehr hohen Dunkelziffer aus”, so Böhmecke. Weil das Risiko für Frauen und Mädchen aus streng patriarchalen Familien in den Sommerferien steige, ins Herkunftsland der Eltern verschleppt und dort zwangsverheiratet zu werden, sei es wichtig, besonders im Vorfeld der Ferien über die Rechtslage und Beratungsstellen aufzuklären.
Die “Weiße Woche” findet den Angaben zufolge seit 2022 statt und hat pro Jahr jeweils mehr als 500 Schülerinnen und Schüler direkt erreicht. Aktivistin Anna erklärt: “Hätte es an meiner Schule solche Projekte wie die ‘Weiße Woche’ gegeben, hätte ich mich nicht so alleine gefühlt.” Als Jugendliche habe sie lange versucht, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Gleichzeitig habe sie sich solch ein freies Leben gewünscht, wie es ihre Mitschülerinnen führten.
Nach Angaben von Terre des Femmes ahnen betroffene Mädchen und junge Frauen häufig schon, dass sie verheiratet werden sollen. Sie reisten aber dennoch mit ins Herkunftsland, weil sie glaubten, vor Ort immer noch “Nein” sagen zu können. Leider sei das häufig ein Irrtum und die Möglichkeiten, nach Deutschland zurückzureisen, sehr eingeschränkt.
So berichtete ein Beratungslehrer einer Berliner Schule von einer angehenden Abiturientin mit syrischem Migrationshintergrund, die trotz unguten Gefühls mit ihren Eltern nach Syrien fuhr – und dort festgehalten wurde. Es sei nur mit viel Aufwand und der Hilfe des Vereins Papatya möglich gewesen, die junge Frau wieder nach Deutschland zurückzuholen. Inzwischen lebe sie unter neuem Namen in einem anderen Bundesland und hole ihr Abitur nach.
Nach Angaben von Expertin Böhmecke sind am häufigsten junge Frauen von Zwangsheirat bedroht, deren Familien aus den arabischen Ländern stammen, aber auch in Familien vom Balkan oder aus der Türkei spiele Zwangsheirat eine Rolle.
“Die Schule ist oft der einzige Ort, den Betroffene besuchen dürfen, weil sie sonst sehr stark kontrolliert werden”, erklärte Böhmecke. Deswegen sei es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler sich dort im Vorfeld der Ferien jemandem anvertrauen könnten. Dafür müsse bundesweit die Schulsozialarbeit ausgebaut und Sozialarbeiter wie auch Lehrer und Schulleitungen für das Thema sensibilisiert werden. Außerdem fordert der Frauenrechtsverein, dass mehr Geld in die Präventionsarbeit gesteckt und mehr Daten zu Zwangsheiraten erhoben werden.