Zur 111. Ausgabe: eine Kul-Tour de France 2024

Am Samstag (29. Juni) startet die 111. Tour de France. Abseits des Wettstreits ist das berühmteste Radrennen der Welt auch eine Art Visitenkarte unseres Nachbarlands. Eine kulturelle Erkundung entlang der Strecke, erstmals ohne Paris.

Die 111. Auflage: Schon diese Zahl muss rheinischen Radsportfreunden Freude machen. 176 gemeldete Starter und ihre Teams brechen an diesem Samstag (29. Juni) in Florenz zur diesjährigen 111. Tour de France auf. Wie jedes Jahr rasen sie an jeder Menge Kulturerbe vorbei, diesmal zunächst in Italien und dann an vielen der schönsten Dörfer und Städte Frankreichs.

Die berühmteste Rundfahrt der Welt, ausgetragen seit 1903, bietet sich auch an, um kleine und große Sehenswürdigkeiten des Landes kennenzulernen. Als Streifzug durch Geschichte, Kultur und Kulinarik – kurzum: als eine Visitenkarte der “Grande Nation”.

3.492 Kilometer in rund drei Wochen haben die Fahrer 2024 in 21 Etappen zu bewältigen. Die längste Tagesstrecke geht, gleich am dritten Tag, über 229 Kilometer. Und wie immer gilt das Qualitätsurteil von Herbert Watterott (82), der “Stimme der Tour”, die zwischen 1965 und 2006 das Rennen 41-mal kommentierte: “ein radsportverrücktes Örtchen, in dem auch guter Wein gemacht wird”.

Tatsächlich werden in diesem Jahr nur Frankreichs Osten, Südosten und Südwesten durchpflügt. Der Norden und Nordwesten bleiben komplett außen vor – wie eigentlich schon im Corona-Jahr 2020 und 2023. Der “Grand Depart” (Start) findet – genau 100 Jahre nach dem ersten Tour-Etappensieg eines Italieners, Ottavio Bottecchia – erstmals in Italien statt.

Die erste Etappe von Florenz, einer der großen Kulturhauptstädte Europas, führt auf 206 Kilometern durch Postkartenkulissen der Emilia-Romagna in den legendären Badeort Rimini. Tags darauf geht es vom malerischen Hafenkanal von Cesenatico an der Adria über 200 Kilometer ins traditionsreiche Bologna, Ort der wohl ältesten Universität und der vielleicht beliebtesten Hackfleischsoße Europas.

Die 3. Etappe startet in Piacenza. Zwischen Palazzi verschiedener Epochen, dem Hartkäse Grana Padano und den Piemont-Kirschen von Claudia Bertani hindurch geht es nach Turin, Italiens erster Hauptstadt mit dem dort verehrten Grabtuch Christi. Tags darauf endet mit einer Gebirgsetappe das Abenteuer Italien, und eine echte Tour de France beginnt: von Pinerolo über die Grenze in den Sportort Valloire, wo es ein ausgezeichnetes Craft-Bier zu genießen gibt.

Die folgenden Tage lassen keinen Zweifel: Macon, Dijon, Semur-en-Auxois, Nuits-Saint-Georges – in Burgund geht es um Wein und Senf, um schöne Aussichten, frische Hühner und mittelalterliche Kirchen. Nach einer Rundfahrt um Troyes, den perlenden Mittelpunkt der Champagne, und einem Ruhetag in Orleans – Stadt der heiligen Johanna und Welthauptstadt des Qualitätsessigs am ungezähmten Ufer der Loire -, geht es wieder nach Süden, Richtung Zentralmassiv, vorbei an der frühen Zisterzienserabtei Noirlac.

Mit Etappe 11 wird es wieder gebirgig; vom Kurort Evaux-les-Bains im Limousin zu den Vulkanen der Auvergne; und nach Aurillac, dem Geburtsort des genialen Mathematikers Gerbert, der als Papst Silvester II. (999-1003) das Abendland geistlich ins zweite Jahrtausend übersetzte.

Weiter geht die wilde Jagd Richtung Südwesten; das Flüsschen Lot verbindet das hübsche Villeneuve und Agen. In Pau nahe der spanischen Grenze kam 1553 Heinrich von Navarra, später Frankreichs König Heinrich IV., zur Welt; der Ort trägt daher den Titel einer Reformationsstadt Europas. Wegen seiner Nähe zu den Pyrenäenpässen ist Pau dritthäufigste Etappenstadt der Tour-Geschichte.

Entlang dem Grenzgebirge quält sich das Fahrerfeld nach Nimes, als “Nemausus” einst ein wichtiger Außenposten des Römischen Reiches mit einem spektakulären Amphitheater. Danach geben wieder die Steigungen und Abfahrten der Seealpen den Rhythmus vor. Keine Zeit für duftende Wochenmärkte, für die Schwarzen Trüffel der Drome oder einen Genepi, den vorzüglichen Likör der Edelraute. – Aber einen Blick wird man doch werfen dürfen auf die Bischofsstädtchen Gap und Embrun hoch in den Seealpen.

Wer die Tour 2024 gewinnen will, für den kann das mondäne Nizza noch nicht das Ziel sein – zumindest nicht bei der ersten Ankunft. Damals wie heute Traum reicher Russen, gibt es hier Handtäschchen und Parfüms für ganze Vermögen und eine Überzahl an Eissorten, die jede Radlerfigur ruinieren. Also noch mal fies reintreten, in die Berghänge – und konzentrieren auf das finale Zeitfahren am 21. Juli: knapp 34 Kilometer von Monaco nach Nizza.

Traditionell endete die Rundfahrt 110-mal in Paris; jedesmal, präziser gesagt. Doch in diesem Jahr finden dort fast zeitgleich die Olympischen Sommerspiele statt. Erstmals also hört die Frankreich-Rundfahrt nicht in Paris auf. Und erstmals seit 1989 ist ein Einzelzeitfahren die letzte Etappe; kein kommodes Ausfahren Richtung Champs-Elysees, bei dem der Führende traditionell nicht mehr angegriffen wird.

1989 gab es ein legendäres Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Greg LeMond (USA) und Laurent Fignon (Frankreich), der sich nach drei Wochen und 3.285 Kilometern um ganze acht Sekunden geschlagen geben musste. Wer bekommt diesmal Lorbeer, Küsschen, Schampus, das Gelbe Trikot – und ein Döschen für die Dopingprobe?