19 Jahre nach dem Start geht “Germany’s Next Topmodel” am Donnerstag in die 20. Staffel. Über ein fernsehgeschichtsträchtiges Format, das bis heute die Gemüter erhitzt – und verstört.
Das sonnige Sommermärchenjahr 2006 war ein folgenschweres. Doch das hatte wenig mit Fußball zu tun, noch weniger mit der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs und am allerwenigsten mit Plutos Degradierung zum Zwergplaneten. Um gegen sexualisierte Gewalt zu protestieren, ersann die amerikanische Frauenrechtlerin Tarana Burke in diesem Jahr den Kampfbegriff “Me Too”. Und das ist fast 20 Jahre später nicht nur deshalb beachtlich, weil sie es auf einem Netzwerk namens – Ältere erinnern sich – MySpace verbreitete. Mindestens ebenso interessant ist, welcher Fixstern der Fernsehunterhaltung ihr schon kurz zuvor in den Rücken gefallen war.
Am 26. Januar hatte Heidi Klum eine Casting-Show ihrer US-Kollegin Tyra Banks importiert. Zehn Wochen lang sorgte “Germany’s Next Topmodel” fortan nicht nur für gewaltige Resonanz auf allen – damals noch meist analogen – Kanälen. Und schon vor Tarana Burkes öffentlicher Anklage zeigte ProSieben damit, dass Sexisten zwar größtenteils Kerle sind, aber keinesfalls sein müssen. Denn geringschätziger als bei GNTM wurden Frauen im deutschen Fernsehen selten behandelt.
Ein Dutzend makelloser, teils minderjähriger Frauen, das die strenge Heidi Klum aus exakt 11.637 Bewerberinnen ausgewählt hatte, gab jahrzehntelang erstrittene Freiheiten bereitwillig an der Garderobe ab. Mindestens 172 (später 176) komplett körperfettfreie Zentimeter groß, strahlend weiß und wohlgefällig, setzten sich im ersten Durchgang zwölf Finalistinnen bei aberwitzigen Challenges der Bewertung einer Jury aus, die bis zur 14. Staffel 2019 ausnahmslos aus Männern bestand – abgesehen von Heidi Klum, versteht sich. Wobei deren Urteile oft weniger mit den Models als mit Voyeurismus, Fremdscham oder Quälerei zu tun hatten.
Und so wurden bis heute auf diese Weise annähernd 500 “Mädels”, zu denen Klum die Kandidatinnen nicht nur sprachlich degradiert, exakt dem ausgesetzt, was diverse Emanzipationsbewegungen eigentlich beenden wollten: Weiblichkeit als Ware maskuliner Gebrauchs- und Geschäftsinteressen.
Doch hierin bestand nicht die einzige Grundsatzkritik an GNTM. Als die 17-jährige Lena Gercke am 29. März 2006 vor fast fünf Millionen Zuschauern zu Heidis erstem Topmodel gewählt wurde, verlor besonders das gehobene Feuilleton die Contenance. Sachlichere Tadel reichten von Sadismus, Zynismus, Rassismus über Verstöße gegen Jugend-, Arbeits- oder Medienrecht bis zum “Sexismus in Reinkultur”, den etwa die Philosophin Catherine Newmark beklagte.
Daran änderte auch ein Sinneswandel wenig, der im Jahr des Weinstein-Skandals Ende 2017 langsam begann. Drei Jahre später gewann die Transperson Alex Peter eine Staffel, in der weder Konfektions- noch Körpergröße normiert waren. Und ein Jahr darauf fielen erst die Altersgrenze und dann das Männerverbot. Parallel aber haben millionenfach geklickte Videos von Rezo oder STRG-F Klums angebliche Läuterung mithilfe zahlreicher Kronzeuginnen aus früheren Staffeln als “Diversitäts-Washing” angeprangert.
Bevor nun am Donnerstag die 20. Staffel mit einer Parallelversion für männliche Models startet, hätte man von ProSieben-Chef Hannes Hiller bei aller legitimen Freude über das quotenstarke Format gern ein paar Worte sachlicher Reflexion über seine Cashcow gehört. Auf Anfrage hat der Senderchef aber wenig selbstkritisch Klum als Königin der “modernen Cinderella-Story” mit “höchster Glaubwürdigkeit und Kompetenz” bei “großer Akribie und Leidenschaft” bejubelt.
Der Erfolg steht bei Heidi Klum, die 1992 bei einem RTL-Casting von Thomas Gottschalk entdeckt wurde, offenbar über allem. Nur so konnte sie ihren Umsatz beziehungsweise den ihrer Firmen nach Forbes-Schätzungen 2020 in drei Jahren auf über 34 Millionen Euro verdoppeln. Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen, aber “Germany’s Next Topmodel” ist ein Goldesel, der den Zusatz “by Heidi Klum” trägt, aber von Papa Günther gemanagt wird und damit seit 20 Jahren Erfolg hat. Mehr zumindest als die meisten der dort “entdeckten” Topmodels.
Langfristig laufen viele von ihnen eher auf Zweitverwertungsrampen als auf Laufstegen. Und wer es von ihnen geschafft hat und heute selbst als Model tätig ist, arbeitet dann meist für Günther Klums Agentur ONEeins. Ähnlich wie bei Dieter Bohlens wesensverwandten “DSDS”-Superstars sind von Klums Topmodels eigentlich nur drei aus den ersten Staffeln erinnerlich. Außer bei Lena Gercke, Barbara Meier und Sara Nuru brechen die Wikipedia-Einträge meist zwei Jahre nach dem Sieg ab. Vielleicht hat Juror Bruce Darnell dieses Scheitern ja geahnt, als er schon vor 19 Jahren “Drama, Baby, Drama!” forderte. Um viel mehr ging es bei GNTM eigentlich nie.