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Zelle ohne Zukunft? Insider stellt den Strafvollzug in Frage

“Die Mehrheit der Inhaftierten ist nicht gefährlich”: Das meint ein ehemaliger Gefängnis-Direktor – und sagt, was sich im Knast dringend ändern muss.

Schließer in der Justizvollzugsanstalt Tegel (Berlin)
Schließer in der Justizvollzugsanstalt Tegel (Berlin)Imago / Götz Schleser

Was passiert mit Menschen in Gefangenschaft – oder: Was soll mit ihnen passieren? Das erklärte Ziel des deutschen Strafvollzugssystems lautet: Resozialisierung. Aber kann die funktionieren – angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten im Knast? Joachim Walter hat als Gefängnis-Direktor sein halbes Leben dort verbracht – und tut sich dennoch schwer mit dieser Frage: “Ich habe keine endgültigen Antworten.” Was er aber habe, sind “viele Geschichten von Menschen hinter Gittern, die nicht nur als Täter gesehen werden dürfen”.

Einst brachte den Juristen der Zufall ins Gefängnis, wie er sagt: “Ich hatte Angebote als Strafverteidiger, aber dann habe ich vom baden-württembergischen Justizministerium ein verlockendes Angebot bekommen und meine Frau war auch einverstanden.” Eine Entscheidung, die sein Berufsleben und seine Sicht auf das System dauerhaft prägen sollte. Er leitete Strafvollzugsanstalten in Heilbronn, Karlsruhe und Stuttgart; in der JVA Adelsheim im Neckar-Odenwald-Kreis war er für die Einführung neuer, fortschrittlicher Maßnahmen verantwortlich.

Geschichten hinter dem Strafvollzug sollen sichtbar werden

Kürzlich hat der Rechtsanwalt ein Buch veröffentlicht. In “Die Freiheit nehm’ ich Dir” – gewidmet seinen Enkeln – hinterfragt Walter offen die Daseinsberechtigung der heutigen Gefängnisse. Auslöser waren die kindlich-naiven, aber tiefgründigen Fragen seiner Enkel: Wozu gibt es Gefängnisse? Was bringt das eigentlich? Seine Antworten sollen Denkanstöße geben, betont er. Es gehe ihm darum, die Geschichten hinter den “Täter”-Etiketten sichtbar zu machen. “Nicht alles kann so bleiben, wie es heute ist”, ist seine Botschaft.

Über problematische Zustände in deutschen Strafvollzugsanstalten wurde in den vergangenen Jahren viel berichtet. Ein zentrales Problem ist unter anderem die Überbelegung von Haftanstalten. In einigen Bundesländern sind die Gefängnisse zu mehr als 90 Prozent ausgelastet. Gleichzeitig fehlt es an Personal: Derzeit sind laut der Gewerkschaft Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands (BSBD) bundesweit 2.000 Stellen im Strafvollzug unbesetzt. Im März 2024 waren in Deutschland nach Angaben des Portals Statista in 172 Strafvollzugsanstalten rund 43.746 Personen inhaftiert, davon etwas weniger als sieben Prozent im Jugendstrafvollzug.

Der deutsche Strafvollzug leidet unter vollen Zellen und zu wenig Personal
Der deutsche Strafvollzug leidet unter vollen Zellen und zu wenig PersonalImago / photothek

Ein weiteres Problem seien verbreitete Klischees. Dass man im Gefängnis erst kriminell werde, hält Walter beispielsweise für eine Halbwahrheit. “Die meisten haben kriminelles Verhalten schon draußen gelernt”, sagt er. Doch das Gefängnis biete reichlich Gelegenheit, noch tiefer in problematische Verhaltensmuster zu rutschen – in Einzelfällen aber auch, sich positiv zu entwickeln.

Soziale Ungleichheit prägt viele Biografien im Strafvollzug

Entsprechend sei er hinter den Mauern eigentlich nur jungen Männern begegnet, die kaum Chancen auf ein gelingendes Leben hatten. Fast alle stammten demnach aus zerrütteten, armen oder migrantisch geprägten Verhältnissen. “Die meisten von ihnen hatten nie eine reale Chance”, stellt Walter fest. Es ist diese soziale Ungerechtigkeit, die ihn bis heute belastet.

Hätte er die Möglichkeit, eine Reform im Strafvollzug sofort umzusetzen, wäre seine Wahl klar: “Der offene Vollzug sollte Regelvollzug werden – und zwar nicht nur auf dem Papier. Die Mehrheit der Inhaftierten ist nicht gefährlich.” Würde man ihnen ermöglichen, zu arbeiten, Steuern zu zahlen und Verantwortung zu übernehmen, könnte man vielen helfen – und der Gesellschaft insgesamt nützen.

Massachusetts-Experiment zeigt neue Wege im Strafvollzug

Mit Interesse habe der Mann aus der Praxis deshalb auch die Serie “A Better Place” im Ersten verfolgt, die Anfang des Jahres für Diskussionen sorgte: Sie zeigte eine Welt ohne Gefängnisse – wohl mit dramatischen Folgen. Die TV-Reihe habe ihn an das “Massachusetts-Experiment” der 1970er Jahre erinnert: Damals schloss der Reformer Jerry Miller alle Jugendgefängnisse des US-Bundesstaates und brachte die Jugendlichen in Heimen oder bei Pflegefamilien unter – mit Erfolg. Doch politische Widerstände setzten dem Modellprojekt ein Ende. Auch heute noch, kritisiert Walter, hänge die Gesellschaft am Prinzip der Vergeltung durch Freiheitsentzug.