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Zeit zum Händereichen

Über den Predigttext zum 11. Sonntag nach Trinitatis: Lukas 18,9-14

Predigttext
9 Dann sprach er aber auch zu Leuten, die von sich selber überzeugt waren, gerecht zu sein, und die anderen verachteten, mit diesem Gleichnis: 10 Zwei Menschen gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand für sich und betete: Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die übrigen Menschen, die rauben, Unrecht tun, Ehen brechen – oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche, ich verzehnte alle Einnahmen. 13 Der Zöllner stand am Rande und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel erheben. Er schlug sich an die Brust und sprach: Gott, versöhne dich mit mir Sünder. 14Ich sage euch, dieser Mensch ging gerechtfertigt hinunter nach Hause und jener nicht. Denn alle, die sich selbst erhöhen, werden erniedrigt werden, und die, die andere nicht zu beherrschen suchen, werden erhöht werden.
(Übersetzung: Luise Schottroff, Die Gleichnisse Jesu)

Pharisäer und Zöllner. Alles klar. Der eine selbstherrlich und mit doppeltem Boden – der andere ein demütiger Zöllner. Jesus – natürlich – auf der Seite des betenden Sünders. So weit das Klischee.

Schauen wir genauer hin. Da entdecken wir anderes.

Da gehen ein Pharisäer und ein Zöllner in den Tempel, um dort zu beten. Zwei ganz unterschiedliche Personen, die völlig unterschiedliche Plätze in der damaligen Gesellschaft einnehmen.

Über pharisäische Menschen gibt es einiges zu lesen, in der Bibel und auch in anderen Quellen. Das waren Frauen und Männer, die ihren Glauben gelebt haben. Ihr großes Ziel war es, die Gebote zu halten und den Glauben in das alltägliche Leben zu holen. Sie haben dafür gesorgt, dass nicht nur im Tempel gebetet wurde, sondern dass die religiösen Bräuche auch in die Häuser, an die Familientische eingezogen sind.

Ihnen ist es zu verdanken, dass jüdische Familien bis heute den Schabbat feiern. Und dass die Hoffnung immer noch besteht: Wenn alle jüdischen Menschen an einem Schabbat die Gebote halten, kommt der Messias. Die biblischen Pharisäer und Pharisäerinnen waren Vorbilder – sicherlich auch für die Menschen, die mit Jesus unterwegs waren.

Trotzdem erhält der Pharisäer eine Lektion von Jesus: Ausgerechnet ihm passiert es, das Gebot der Nächstenliebe zu übertreten. Ganz vorne im Tempel hat er sich hingestellt. Gut sichtbar für alle und auch gut zu hören. Und ganz hinten, quasi direkt am Ausgang, steht der, für den es normal ist, die Gesetze zu übertreten. Es ist schon erstaunlich, dass er überhaupt den Weg dorthin gefunden hat. Er betet: „Gott, versöhne dich mit mir Sünder.“

Zwei Menschen beten im Tempel. Beten heißt offen und bereit sein für das Wirken Gottes. Der Pharisäer ist in dieser Szene nur für das offen, was er selbst geleistet hat. In dem Moment spielt der Dialog mit Gott für ihn keine Rolle.
Der Zöllner dagegen spricht seine Bitte aus. Er ist offen und bereit für das Wirken Gottes.

Mit der Schlussfolgerung, die Jesus aus dem Gleichnis zieht, hat die hörende Gemeinde nicht gerechnet. Jesus sagt: Gott ist anders. Gott lässt das Leben blühen. Unvermutet. Als Geschenk. Genau dort, wo es nicht zu erwarten war. Für den Pharisäer ist es bitter: Du kannst bei Gott keine Punkte sammeln. Schon gar nicht, wenn du andere herabsetzt. Hör auf, dich bei Gott einkaufen zu wollen. Gottes Maßstab ist die Liebe, die heilende Liebe, die Vergangenheit und Zukunft umspannt. Das jedenfalls lese ich aus vielen Stellen in der Bibel und ganz besonders aus dem, was Jesus predigt.

Damit ist die Entscheidung, was wahr ist und was falsch, Gottes Sache. Wie auch immer Gericht und Gnade aussehen, darüber brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Unser Glaube gibt uns die Hoffnung: Gott wird mir gerecht werden. Deshalb sei das Gebet offen und bereit für das Wirken Gottes.

Ich habe mich gefragt, was das bedeuten könnte in den drängenden Fragen unserer Zeit. Wo könnten heute Pharisäerinnen und Pharisäer sein, die vorangehen, die konsequent ihre Ziele verfolgen und ihren Weg gehen, die zeigen, was möglich ist? Die Vorbilder sind für sich und andere, die Traditionen leben und Traditionen schaffen?

Und wo sind die Zöllnerinnen und Zöllner, die sehr wohl die Richtung kennen, aber zu bequem oder zu geschäftstüchtig sind sie einzuschlagen?

Im Garten Gottes finden beide ihren Platz. Die Liebe führt sie zusammen. Heute ist der Tempel die Welt und Gottes Wirken nach wie vor mitten darin. Pharisäerinnen und Zöllner befinden sich im gleichen Raum. Es wird Zeit, sich die Hände zu reichen. Wir und unsere Erde haben es nötig.