“Zeit Verbrechen” drängt auf den Streaming-Markt

Die Marke “Zeit Verbrechen” ist ein Beispiel für erfolgreiche Diversifikation. Zum sechs Mal jährlich erscheinenden Magazin gesellte sich 2018 ein Podcast. Nun wird das Portfolio nochmals erweitert.

Je einen Kriminalfall, der im “Zeit Verbrechen”-Podcast bereits vorgestellt wurde, sollten die vier Regisseurinnen und Regisseure Mariko Minoguchi, Helene Hegemann, Jan Bonny und Faraz Shariat im Auftrag der Produktionsfirma X Filme Creative Pool (“Babylon Berlin”) adaptieren. Für die zwischen 53 und 72 Minuten langen Spielfilme wurden die Originalfälle fiktionalisiert und dramaturgisch aufbereitet. In einer jeweils zugehörigen Dokumentation berichtet die Kriminal- und Gerichtsreporterin Sabine Rückert, Gründerin des Magazins “Zeit Verbrechen” und Podcasterin, über die tatsächlichen Ereignisse, die teils von ihr, teils von Kolleginnen und Kollegen recherchiert wurden.

Der Streamingdienst RTL+ spricht in seinen Ankündigungen von einer Serie. Tatsächlich handelt es sich bei den Spielfilmen um eine Reihe weder inhaltlich noch handwerklich-ästhetisch verbundener, sogar ausgemacht disparater Einzelproduktionen. Da wäre Mariko Minoguchis , ein beeindruckend gelungener Beitrag. Der 18-jährige Tim verbringt mit Freunden einen Abend im Club. Mit der Zeit zeigt er Ausfallerscheinungen, irrt sich bei der eigenen Adresse, hat Probleme mit dem Handy. Trunken taumelt er über die Tanzfläche, wankt ins Freie, schlägt lang hin. Die Polizei trifft ein, hilft ihm auf, lässt Sanitäter kommen. Die empfehlen eine Untersuchung im Krankenhaus. Tim aber will nach Hause. Der Rettungswagen muss weiter, die Polizisten lassen den Jungen stehen.

Er läuft zu Fuß zu seinem vermeintlichen Zuhause, landet an der falschen Adresse, verlangt aber beharrlich, eingelassen zu werden. Die Hauseigentümer rufen die Polizei. Die beiden Beamten wollen dem unbelehrbaren Bengel eine Lektion erteilen und setzen ihn außerhalb des Ortes auf einer Landstraße aus. Eine Entscheidung mit tödlichen Konsequenzen.

Helene Hegemanns ist die Tragödie eines jungen Mannes migrantischer Herkunft, der an einer schweren Psychose litt, gegenüber seinen engsten Freunden und der Familie zunehmend aggressiver, gar gefährlich wurde. Weder bei der Polizei noch in einer psychiatrischen Klinik fand Cem die nötige Hilfe. Was dann geschah, nennt die zugehörige Dokumentation einen Akt von Selbstjustiz. Doch Cem hatte kein Verbrechen begangen, das es zu bestrafen galt. Sein gewaltsamer Tod erscheint vielmehr als zwar kollektive, aber dennoch affektive Notwehr – ein ausgelagerter Suizid.

In Hegemanns Inszenierung dominieren die Turbulenzen. Es wird gebrüllt, mit Pistolen und Messern gefuchtelt, gerangelt, im Gerichtssaal toben Anwälte. Hegemann springt zwischen den Zeitebenen hin und her, oft ohne inhaltlichen Gewinn. Sie zeigt Tanzende in einem Club, dann folgt ein Insert “7 Tage früher”. Eine überflüssige Vorwegnahme, weder spannungsfördernd noch instruktiv.

Noch mehr als Hegemann konzentriert sich Jan Bonny in seinem Film – eine Rilke-Anspielung – auf die exzessiven Momente. Er hält sich nicht mit einer Exposition auf. Johnny, gespielt von Lars Eidinger, ist einfach da. Er tauscht SMS mit einer gewissen Nele, einer Polizistin, die er mit Informationen aus dem Verbrechermilieu versorgt, wofür er sich nicht nur gut bezahlen lässt. Er fordert für seine Deals beispielsweise auch Luxuslimousinen an, die er dann in Verbrecherkreisen als geklaut ausgibt. Kaum hat der hoch verschuldete Johnny ein paar Scheine verdient, trägt er sie wieder an den Spieltisch. Er muss ständig neue Geldquellen auftun, betrügt seine Kontaktpersonen bei der Polizei wie seine Komplizen, raubt die Drogen konkurrierender Banden und beschafft Sexsklavinnen für einen Bordellbesitzer, dessen Vertrauen er erschleichen will.

Mal prügelt der psychisch instabile Johnny wie wild auf ein Opfer ein, dann wieder ist er besorgter Vater einer drogenkranken Tochter, die er andererseits ohne Skrupel als Dealerin einsetzt. Für Hauptdarsteller Lars Eidinger eine schauspielerische Tour de Force, die sich aus Betrachterwarte jedoch bald erschöpft. Johnnys Charakter, diese wichtigtuerische Mischung aus Gier, Geltungssucht, Hybris, ist schnell erkannt. Außer expliziten Gewalt- und Sexdarstellungen, künstlich aufgemotzt durch eine nervöse Handkamera, haben die Drehbuchautoren Bonny und Jan Eichberg dem nicht viel hinzuzufügen.

Ganz anders Faraz Shariats verfasst von Regisseur Shariat mit Raquel Dukpa und Paulina Lorenz. Gemeinsam firmieren die Drei als “Die Jünglinge”. Pfiffig eröffnet das Trio seinen Beitrag ganz Hollywood-reif nach den Mustern des Actionfilms. Der weiße Besitzer einer Goldmine in Ghana spricht gerade herablassend über seine schwarzen Arbeiter, da werden er und seine Begleiter aus dem Dunkel heraus erschossen. Zur Beerdigung reist aus den USA seine Tochter Earlie Thomas an. Sie soll inmitten einer fremden, gefährlichen Umgebung die Geschäfte übernehmen. Der Leibwächter ihres Vaters bietet seine Hilfe an, kann aber nicht verhindern, dass ihr Wagen nachts von der Straße gedrängt wird. Earlie überlebt schwer verletzt, muss operiert werden, doch ihre Krankenversicherung ist in Ghana ohne Wert. Der zuständige Arzt meldet sich bei einem Freund Earlies in Deutschland, der den erforderlichen Betrag aus Sorge um ihr Leben schleunigst anweist. Nicht die letzte Zahlung, die er leisten wird.

Denn die ganze Geschichte ist, jetzt kommt der Wendepunkt, die romanhaft ausgeschmückte Erfindung eines jungen Schwarzen, dessen Geschäft darin besteht, älteren einsamen Männern die Zuneigung attraktiver Frauen vorzugaukeln, um ihnen auf diese Weise Geld abzuluchsen. Earlie gibt es nicht, die Fotos, auf denen sie zu sehen ist, sind Montagen. Die Tochter des Geneppten durchschaut den Schwindel, doch ihr Vater Ralf will sich die Wahrheit partout nicht eingestehen.

Die Stärke dieses Films liegt in seiner Ambivalenz. Vincent, der ghanaische Gauner, ist ein gar nicht mal unsympathischer Schlawiner. Er hat Familie, spart auf ein Stück Land, sieht aber in dem strukturschwachen Land keine Chance, das Geld auf ehrliche Art zu verdienen. Er betrachtet sein Tun als Geschäft zu beiderseitigem Frommen: “Die Weißen zahlen, weil sie Helden ihrer Geschichten sein wollen. Ich helfe ihnen dafür aus ihrer Einsamkeit.”

Auch die korrespondierende Dokumentation nimmt in dem Zyklus mit dem Reihentitel “Zeit Verbrechen – Spurensuche” eine Sonderstellung ein. In den Hintergrundberichten steht in der Regel Sabine Rückert im Vordergrund, die die realen Geschehnisse in Interviews mit Beteiligten oder Experten wie Rechtsmedizinern oder Juristen aufarbeitet. Dabei kann sie nicht verbergen, dass sie die Details bereits kennt, fällt ihren Gesprächspartnern ins Wort, gibt ihnen sogar Antworten vor.

So zeigt sich ein bekanntes Manko der sogenannten “Presenter-Reportagen”, bei denen immer Gefahr besteht, dass die Moderatorin oder der Moderator zu Lasten des Inhalts in den Vordergrund gerückt werden. “Die Venusfalle” hebt sich insofern von dieser Machart ab, als das Kamerateam den “Zeit”-Reporter Henning Sußebach bei seinen Recherchen in Ghana begleitet. Er spricht mit örtlichen Kollegen, einer ghanaisch-deutschen Autorin, einem “Love Scammer” – Liebesschwindler -, der anonym über sein Arbeitsfeld berichtet. Sußebach stellt die richtigen Fragen, hört geduldig zu, fördert Hintergründe zutage, soziale, auch historische, zieht Rückschlüsse auf Kolonialismus und Sklaverei.

Die Spielfilme der Reihe, teils namhaft besetzt mit Stars wie Sandra Hüller, Sophie Rois, Lavinia Wilson oder Detlev Buck, dürften einen Aufmerksamkeitswert schaffen, von dem die Dokumentationen profitieren. Diese gewinnen in dem Maße an Wert, wie sie über die reine Nacherzählung realer Verbrechen hinaus den Blick für bestimmte Themen und Problemfelder zu schärfen vermögen, ohne didaktische Schwerblütigkeit Verständnis schaffen, im Idealfall sogar Aufklärung betreiben.