Worte bekommen Hand und Fuß

In Niedersachsen leben mehr als 5.000 Menschen ohne Gehör, die zur Verständigung auf Gebärden angewiesen sind. Für sie gebärdet Pastorin Christiane Neukirch das Lob Gottes.

Halleluja: Pastorin Christiane Neukirch
Halleluja: Pastorin Christiane Neukirchepd/Sven Kriszio

Hannover. Wenn Christiane Neukirch predigt, dann zieht sie alle Blicke auf sich. „Das liegt daran, wie ich predige“, sagt die 64-jährige Pastorin. Die Beauftragte für gebärden-sprachliche Seelsorge in der Landeskirche Hannovers macht nämlich Gebärden, wenn sie auf der Kanzel steht. Sie formt und bewegt ihre Hände, während sie spricht, und ist ebenso mimisch und mit ihrem ganzen Körper im Einsatz. Und das muss sie, denn ihre Gemeinde besteht aus Menschen, die gehörlos geboren wurden oder später taub geworden sind. Zunehmend gehören auch schwerhörige Menschen dazu.

So anders die Anmutung, so direkt die Ansprache

Beim Wort „Barmherzigkeit“ zum Beispiel lege sie die Hand auf ihr Herz und mache dann eine Bewegung zu den Zuschauern, beschreibt Neukirch die Gebärde. „Durch Gebärden bekommen Worte Hand und Fuß“, so Neukirch weiter, die seit rund 20 Jahren Gebärden-Seelsorgerin ist. „Die Gebärden-Sprache bietet eine Dimension, die Hörenden fehlt.“

Die deutsche Gebärden-Sprache, die sich von der lautsprachbegleitenden Gebärde unterscheidet, lernte Neukirch vor etwa 30 Jahren kennen. Sie war sofort fasziniert. Gebärden-Sprache ist anschaulich. „Gehörlose sprechen visuell miteinander, nicht Zeile für Zeile. Sie brauchen keine Konjugation oder Deklination.“ Wenn man sagen wolle, dass ein dicker Mann eine kleine Katze auf einen Stuhl setzt, dann baue man den Satz genauso auf, wie man das Bild betrachtet, das er beschreibt. Dann hießen die Gebärden: „Mann, dick, Katze, klein, Stuhl dort, setzen auf.“

Die Gebärden-Sprache zwingt, konkret zu sein

Auch kompliziertere Inhalte brauchen eine bildhafte Übersetzung, sagt Neukirch. Dies zwinge dazu, konkret zu sein, betont die Pastorin. „Man muss auf den Punkt kommen. Alle Sprechblasen zerplatzen.“ Zum Beispiel die Versöhnung von Frankreich und Deutschland nach den Weltkriegen beschreibe sie mit dem Handschlag von François Mitterrand und Helmut Kohl über den Gräbern des Schlachtfelds von Verdun.

Mancher Prediger könnte sich an der Gebärden-Sprache ein Vorbild nehmen, so Neukirch. „In vielen Predigten bleibt das Eigentliche ungesagt und unverständlich.“ Worum gehe es zum Beispiel bei der Theodizee? „Wir müssen tapfer sein in unserem Leben und trotzdem Gott vertrauen.“ So bringe sie die schwierige Frage nach der Gerechtigkeit Gottes auf den Punkt. „Und ich sehe, ob die Menschen nicken oder nicht.“

Gebärden können Brücken bauen

Neun Pastorinnen und Pastoren seien zur Zeit ehren-, neben- und hauptamtlich in der gebärdensprachlichen Seelsorge tätig, so Neukirch. In 19 Gemeinden, die sich über Niedersachsen verteilen, würden regelmäßig Gebärden-Gottesdienste gefeiert. „Wir wollen Gemeinschaft erlebbar machen“, sagt Neukirch. So auch beim jährlichen Glaubenskurs Ende Juni, bei dem sich 20 Gebärdende über das Jesuswort „Ich bin die Tür“ austauschen.

Ein wichtiges Thema für taube Menschen sei die Ausgrenzung der Gebärdenden, auch wenn gesellschaftlich viel in Bewegung gekommen sei, sagt Christiane Neukirch. Die Pastorin wünscht sich ein größeres Bewusstsein dafür, dass es viele Hörgeschädigte gibt. „Davon würden alle profitieren. Denn Gebärden können Brücken bauen.“