Wo Strandleichen ihre letzte Ruhe finden

Ob Mordopfer oder Tribut von Wind und Wellen: Tote aus dem Meer blieben früher meist anonym und wurden auf eigenen Friedhöfen beigesetzt. Das hat sich heute geändert.

Fundort und Datum stehen auf den Holzkreuzen des Friedhofs für Strandleichen in Westerland auf Sylt
Fundort und Datum stehen auf den Holzkreuzen des Friedhofs für Strandleichen in Westerland auf SyltKristina Larek / epd

Westerland. Hecken säumen die kleine Fläche direkt hinter dem Westerländer Deich. Dicht an dicht reihen sich die Holzkreuze, Rosen zieren die kleinen Beete davor. In der Mitte steht ein Gedenkstein. Auf den ersten Blick sieht alles aus wie auf einem gewöhnlichen Friedhof. Aber: Auf den Holzkreuzen hier stehen keine Namen der Toten, stattdessen nur ein Ort und ein Datum. Auf diesem Gottesacker im Herzen von Sylt haben Menschen ihre letzte Ruhe gefunden, die als Wasserleichen an die Strände der Insel angeschwemmt wurden. "Heimatstätte für Heimatlose" steht auf dem weißen Holztor, durch das der Besucher den Ort betritt, der heute zur Touristenattraktion geworden ist.
1854 eröffnet, erinnert der Friedhof an eine Zeit, in der regelmäßig Strandleichen an Norddeutschlands Küsten gefunden wurden. Infolge des zunehmenden Seehandels und der aufkommenden Dampfschifffahrt waren immer mehr Schiffe den Gefahren auf hoher See ausgesetzt, so mancher Seemann ging über Bord. Allein vor der Insel Sylt mit ihrer langgezogenen Küste strandeten manchmal bis zu drei Schiffe am Tag. In früheren Zeiten wurden die angeschwemmten Leichen von den Einheimischen einfach im Sand an der Küste verscharrt. Eine neue Regelung am Anfang des 19. Jahrhunderts sorgte dafür, dass der Staat für ihre – wenn auch oft lieblosen – Begräbnisse bezahlte und eigene Friedhöfe entstanden.

Nur einer wurde identifiziert

So legte Stranddirektor Wulf Hansen Decker auch in Westerland einen Friedhof für Heimatlose an, damals noch weit vor den Toren des Ortes. Weil man nicht wusste, ob es sich um Ungetaufte oder möglicherweise sogar Selbstmörder handelte, sollten sie keinesfalls in geweihter Erde bestattet werden. Das Auffinden und die Beerdigung der Strandleichen waren große Ereignisse für Inselbewohner und Gäste und glichen häufig einem Volksfest. Die Särge wurden aus angeschwemmten Wrackholz gefertigt.
Insgesamt 53 Tote vom Sylter Strand haben auf diese Weise auf dem Westerländer Friedhof anonym ihre letzte Ruhe gefunden. Nur einer, Harm Müsker, wurde identifiziert und mit einem persönlichen Gedenkstein gewürdigt. Am 2. November 1905 wurde der letzte Unbekannte an diesem Ort begraben, 1907 wurde der Friedhof aus Platzgründen offiziell geschlossen.

Wasserleiche in der Elbe

Entlang der deutschen Nordseeküste gab und gibt es eine ganze Reihe solcher Begräbnis- oder Gedenkorte. Erhalten sind beispielsweise die Friedhöfe auf Spiekeroog, Amrum und der zu Hamburg gehörenden Elbinsel Neuwerk. Aktiv genutzt als Begräbnisstätte wird jedoch keiner mehr.
Heutzutage werden unbekannte Strandleichen in der Regel auf den örtlichen Friedhöfen beigesetzt – auf Sylt bei der evangelischen Kirche Sankt Niels, in Hamburg auf dem Öjendorfer Friedhof, wo ein spezieller Bereich für anonyme Bestattungen reserviert ist. Allerdings sind solche Fälle heute äußerst selten. Etwa ein bis zwei Leichen pro Jahr werden an Elbe und Nordsee angespült, teils die Opfer eines Unfalls auf See oder am Strand, teils auch die Opfer eines Verbrechens. Die wenigsten von ihnen bleiben anonym.
"Die Identifizierung der Leichen ist im Zeitalter von DNA und EDV sehr viel einfacher geworden", sagt der Sprecher der Landespolizei Schleswig-Holstein, Uwe Keller. Nach der gerichtlichen Obduktion würden die Daten von Wasserleichen mit bundes- und europaweiten Dateien für vermisste und unbekannte Tote abgeglichen. Die Trefferquote sei hoch: "Aus den 2000er-Jahren haben wir keine nicht-identifizierte Leiche."
Bis solche Wasserleichen ihre letzte Ruhe finden, können jedoch einige Monate vergehen. Eine der letzten entdeckte die Hamburger Polizei im November 2016 in der Norderelbe. Der Abgleich des DNA-Musters mit den Datenbanken zog sich hin, erst Ende Oktober 2017 – also fast ein Jahr später – stand zweifelsfrei fest, dass es sich um einen 56-jährigen Portugiesen handelt. Die näheren Todesumstände sind nach Angaben der Polizei noch unklar.
Wo der Tote beigesetzt wird, entscheiden seine Angehörigen – vorausgesetzt die Polizei findet welche. Falls nicht, ist eine "Bestattung von Amts wegen" auf dem Öjendorfer Friedhof sein letztes Geleit. (KNA)