Wo alle an einem Tisch sitzen

Kinder und Erwachsene, Deutsche und Flüchtlinge – alle treffen sich in der Kunstwerkstatt im kleinen Tribsees. Das hat die Nordkirche mit einem Preis belohnt. Zu Besuch in einem nicht alltäglichen Atelier.

Renate und Andreas Rittemeier malen gemeinsam mit Kindern
Renate und Andreas Rittemeier malen gemeinsam mit KindernSybille Marx

Tribsees. Wenn Renate Rittmeier an einem ihrer Bilder arbeitet, dann vergisst sie die Zeit. Dann versinkt sie im Augenblick, im Spiel mit Form und Farbe, mit Kontrast und Harmonie, manchmal für einen ganzen Tag. „Ich bin dann total im Flow“, erzählt die 58-Jährige. „Das ist unglaublich heilsam für die Seele.“

Vielleicht liegt hier der Grund dafür, dass die Malwerkstatt in Tribsees, die Renate Rittmeier und ihr Mann vor zwei Jahren gegründet haben, so viel Zuspruch genießt und jetzt sogar den Inklusionspreis der Nordkirche gewonnen hat. Mit dem Preisgeld von 3500 Euro kann der Verein nun etwa ein Jahr lang die Raummiete bezahlen. Aber vielleicht liegt der Erfolg einfach daran, dass die Rittmeiers „so nett sind“. So jedenfalls sagen es die Kinder und Jugendlichen, die zum Teil sporadisch, zum Teil jeden Freitag in den alten Schleckerladen in der Tribseer Innenstadt kommen.

Zuerst malten die Kinder

„Kunstwerkstatt“ steht auf einem bunten Schild, das im Schaufenster hängt, Neonröhren und weiße Bodenfließen schaffen kalte Helligkeit. Doch kaum ein Zentimeter, der hier nicht mit irgendetwas Buntem, Knalligem belegt wäre: mit Pigmentpulver und Pinseln, Leinwänden, Farbtuben und fertigen Kunstwerken. Mittendrin ein großer Tisch, an dem die Rittmeiers Woche für Woche bis zu 20 Menschen aus dem Ort zusammen bringen: Kinder, Jugendliche und Ältere, Deutsche und Flüchtlinge, Menschen mit und ohne Behinderung, Kirchenmitglieder und Kirchenferne. Inklusiv eben, offen für alle.

„Als erstes kamen die Kinder und Jugendlichen“, erzählt Renate Rittmeier, deren Brille so türkis leuchtet als sei sie mit Wasserfarbe gemalt. „Auf die hatten wir abgezielt.“ Im Vogelsberg in Hessen hatten sie und ihr Mann, ein ausgebildeter Reformpädagoge, ein paar Jahre zuvor schon ein Kunstprojekt an Schulen gestartet. Nach uralter Technik stellten sie mit den Kindern Farben her und nutzten sie für eigene Kunstwerke. „Ganz nebenbei haben wir basisdemokratische Grundwerte vermittelt“, erzählt Renate Rittmeier. Etwa, dass es Kinder gebe, die zwei Väter oder zwei Mütter als Eltern haben. Oder dass Ausländer die gleichen Grundbedürfnisse hätten wie alle Menschen.

Alle an einem Tisch

Seit 2014 leben die Rittmeiers nun in Mecklenburg-Vorpommern, in der der Nähe von Tribsees in einem kleinen Dorf – und fanden bald, dass auch hier ein paar basisdemokratische Impulse hilfreich sein könnten. Tribsees hat eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge, 2015 füllten sich viele der Zimmer. Unsicherheit entstand unter den Einheimischen, manch fremdenfeindlicher Ton war in der Stadt zu hören. Für die Rittmeiers der Anlass: Wir gründen eine offene Malwerkstatt.

Im Arbeitskreis Asyl der evangelischen Kirchengemeinde fanden sie den Träger, einen Raum im alten Küsterhaus stellte ihnen die Gemeinde zur Verfügung – ohne Strom, ohne fließend Wasser, ohne Toilette. „Wir fanden ihn eigentlich gar nicht zumutbar, aber die Rittmeiers haben gesagt: Wir nehmen ihn“, erzählt Pastor Detlev Huckfeldt. Was sie nun im Laufe von zwei Jahren erreicht hätten – inzwischen im alten Schleckerladen – sei verblüffend. „In die Kunstwerkstatt kommen Leute, die wir als Gemeinde sonst gar nicht erreichen“, sagt der Pastor. Und die Rittmeiers hätten eine wunderbare Art, ganz nebenbei Werte wie Nächstenliebe und Toleranz zu vermitteln.

„Wir bringen einfach alle an einen Tisch“, erklärt Renate Rittmeier, die früher bei der Lufthansa arbeitete und Kollegen aus vielen verschiedenen Ländern hatte. Farben und Leinwände stellen sie aus eigener Kasse bereit. Jeder, der will, kann freitags unter ihrer Anleitung Kunst aufs Papier bringen, Woche für Woche, ohne Druck, ohne Eile, ohne Noten, wie sie immer betonen. Ein Ansatz, der ankommt. „Das macht total Spaß, weil man der Kreativität freien Lauf lassen kann“, meint etwa die elfjährige Klara Moser.

Zweites Zuhause

Ihre Freundin Marie Bork sagt, die Malwerkstatt sei fast so etwas wie ihr zweites Zuhause. Auch Angeli Lücke verbringt praktisch jeden Freitagnachmittag hier, weil sie das Zeichnen liebt und zu Hause sonst allein wäre. Wenn man diese Mädchen fragt, wie sie es finden, dass hier auch Kinder aus Syrien mitmachen, gucken sie nur erstaunt. „Na, ganz normal“, sagen sie. „Die sind auch nett, wie alle hier.“

Für Rittmeiers ist die Malwerkstatt so etwas wie die Keimzelle einer Solidar-Gemeinschaft. „Wer hier mit geflüchteten Kindern arbeitet, grenzt erwachsene Flüchtlinge nicht mehr so schnell aus“, hoffen sie. Das sei wie ein kleines Senfkorn, das sie säten. „Und es funktioniert verdammt gut.“

Dass Pastor Detlev Huckfeld schon mehrmals Förderanträge geschrieben hat, um Gelder für ihr Projekt einzuwerben, bedeutet beiden viel. Renate Rittmeier hatte der Kirche lange den Rücken gekehrt. 13 Jahre alt war sie gewesen, als ihre Mutter starb. In ihrer Heimat im Saarland.„Ich hab damals gerade den Konfirmandenunterricht besucht“, erzählt sie. „Aber glauben Sie, mich hätte irgendwer mal gefragt, wie es mir geht?“ Isoliert sei sie gewesen, allein mit ihrer großen Trauer, mitten unter Menschen, die von einem liebenden Gott sprachen. „Eine Kirche, die in solchen Zeiten nicht für mich da ist, ist nicht meine Institution“, beschloss sie damals. Auch ihr Mann Andreas war nicht mehr in der Kirche, als die beiden 2014 nach Mecklenburg-Vorpommern zogen.

Erfolgreiche Ausstellung

Erst durch den Kontakt mit der Tribseer Kirchengemeinde und Pastor Detlev Huckfeld fanden sie wieder in eine Gemeinde. Heute engagieren sie sich im Arbeitskreis Asyl der Gemeinde, helfen Flüchtlingen bei alltäglichen Problemen, singen im Kirchenchor mit und besuchen die Gottesdienste. „Hier ist Kirche genauso, wie es uns entspricht: Für andere da“, sagt Renate Rittmeier. „Darum haben wir gesagt: Ja, das ist es!“

Die Kunst-Ausstellung, die sie nach dem ersten halben Jahr mit Bildern der Teilnehmer organisierten, zog übrigens 80 Besucher an. Und dass Tribsees durch den Inklusionspreis auch mal in die überregionale Presse kommt, findet Renate Rittmeier wunderbar. „Die Menschen hier haben es verdient, dass man mehr mit ihrer Heimat verbindet als das Loch in der A20.“