Wissenschaftlerin will Sexualität “entstressen”

Quantität ist nicht gleich Qualität – das gilt auch beim Thema Sex. Wer ganz darauf verzichtet, trifft auf gesellschaftliches Unverständnis. Über die Gründe für Enthaltsamkeit ist jetzt ein Buch erschienen.

Es gibt mehr als das Lustempfinden durch penetrierenden Sex. Oder wie die Autorin und Wissenschaftlerin Beate Absalon es veranschaulicht: “Manchmal ist so ein Fünf-Gänge-Menü orgasmischer als ein schlechtes Date.” Deshalb lautet das Credo der 35-Jährigen: “Nennt Sex, was ihr sexy findet.”

In ihrem Buch “Not giving a fuck”, das kürzlich erschienen ist, schreibt Absalon über gesellschaftliche Zwänge, die den Selbstwert bestimmen und über gängige Sex-Mythen, die sich hartnäckig in den Köpfen vieler Menschen halten. Der größte darunter ist wohl die kaum hinterfragte Tatsache, dass Sex-Positivität – also eine offene Einstellung gegenüber sexuellen Handlungen – grundsätzlich befriedigender sei als Sex-Negativität.

Darunter versteht die Autorin eine Einstellung, die Sex nicht feindlich gegenübersteht. Aber ihn durchaus kritisch sieht, weil erkannt wird, dass Sex von Machtstrukturen gesprägt ist.

Dabei gibt es viele Menschen, die keine Lust auf das Abspulen der üblichen sexuellen Verhaltensmuster haben, weiß Absalon. Seit sieben Jahren gibt sie Workshops zu sogenannter kreativer Sexualität: Dabei geht es darum, die eigenen Bedürfnisse zu erforschen. “Die Menschen, die meine Workshops besuchen, suchen nach mehr als Geschlechtsverkehr”, erklärt Absalon. “Es geht darum, vorurteilsfrei zu spüren, worauf man Lust hat und sich seinen Gefühlen neugierig zu widmen – Lust und Unlust, Entspannung und Verkrampfung, Erregung und Flaute.”

Einige der Workshopteilnehmer würden sich selbst als asexuell oder zölibatär bezeichnen. Zwei Begrifflichkeiten, die mitunter synonym gebraucht werden, tatsächlich aber unterschiedliche Bedeutungen haben.

Asexualität ist eine sexuelle Orientierung, bei der eine Person kein oder nur sehr wenig sexuelles Verlangen empfindet. Asexuelle Menschen können dennoch romantische Beziehungen eingehen, ohne dabei das Bedürfnis nach sexueller Interaktion zu verspüren.

Der Zölibat hingegen ist ein freiwilliges Gelübde, bei dem eine Person sich dazu entscheidet, auf sexuelle Aktivitäten zu verzichten – oft aus religiösen oder spirituellen Gründen. Zölibatär lebende Personen können also durchaus ein sexuelles Verlangen haben, entscheiden sich jedoch bewusst dagegen, es auszuleben.

Die Forschung beschäftigt sich bisher vergleichsweise wenig mit dem freiwilligen Sexverzicht – auch wenn der gar nicht so außergewöhnlich ist. Eine Studie der Uni Bielefeld aus dem Jahr 2016 zeigt, dass etwa ein Prozent der deutschen Bevölkerung sich selbst als asexuell identifiziert. Bei 80 Millionen sind das also achthunderttausend Deutsche – oder: eine Stadt der Größenordnung zwischen Frankfurt am Main und Köln.

Dennoch, so die Studie, sei das Thema noch relativ wenig bekannt und oft mit Unverständnis oder Vorurteilen verbunden. Internationale Studien, die sich mit Asexualität beschäftigen, bestätigen diese Beobachtung.

Ähnliches berichtet auch Beate Absalon. “In unserer Gesellschaft hält sich hartnäckig die Annahme, dass es beim Thema Sex vor allem auf Quantität ankommt. Daher stammen auch negativ konnotierte Begriffe wie Frigidität und Geschlechtskälte. Dabei sind Menschen, die keine Lust auf den üblichen Sex haben, nicht unbedingt weniger sinnlich,” erklärt Beate Absalon, die sich selbst als eher spiel-positiv denn sex-positiv bezeichnet.

Ihr gehe es darum, zu hinterfragen. Woher kommt der Anspruch, dass man viel Sex haben müsse, um ein glückliches Leben zu führen? Und wer hat bestimmt, dass man etwas im Leben verpasse, wenn man keinen Sex hat?

Antworten darauf sucht sie auch in ihrer Doktorarbeit über zeitgenössische Sexualmoral. “Es gibt in der Verhandlungspraxis kaum mehr Tabus”, sagt Absalon. “In Ordnung ist, worauf sich die Beteiligten einigen. Tabu scheint jedoch zu sein, gar keinen Sex zu haben.”

Dabei zeigen weltweite Forschungsergebnisse, dass weniger Sex sogar im Trend liegt. Die Quantität hat deutlich abgenommen, in allen Altersklassen und bei allen Praktiken. Über die Qualität ist damit noch nicht viel gesagt.