Wissenschaftler sieht Schwachstellen bei Hilfe für Wohnungslose

Wohnungslose Menschen brauchen nach Ansicht des Göttinger Soziologie-Professors Timo Weishaupt nicht nur eine Wohnung, sondern auch weitere unterstützende und autonom wählbare Hilfsangebote. Der Sozialstaat könne den Betroffenen zwar „durchaus helfen und tut es vielen Fällen auch“, sagte Weishaupt am Donnerstag bei einer wissenschaftlichen Fachtagung in Göttingen. In der Praxis zeigten sich aber auch Schwachstellen, Zugangshürden und Versorgungslücken, die ein nachhaltiges Beenden der Wohnungslosigkeit erschwerten.

Die Göttinger Tagung bildete den Abschluss des seit 2020 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Selber schuld … oder? Eine vergleichende, stadtsoziologische Erklärung von Wohnungslosigkeit im Wechselspiel individueller, institutioneller und struktureller Faktoren“. Einerseits biete der Sozialstaat Zugang zur Grundsicherung oder Sozialhilfe, erläuterte Weishaupt. Er könne etwa helfen, Zwangsräumungen zu vermeiden, biete Notunterkünfte und ermögliche ausdifferenzierte Unterstützungsangebote wie Krisen-, Drogen- oder Schuldnerberatung, Tagestreffs, Kleiderkammern oder Tafeln. Doch gebe es auch Zugangshürden.

Das Stellen entsprechender Anträge sei für viele Wohnungslose jedoch mit „objektiven“ Hürden verbunden, sagte er. Ihnen fehle häufig schon das Wissen über Hilfsangebote im Internet. Behörden und Ansprechpartner in den Ämtern seien aufgrund langer Wege oder reduzierter Öffnungszeiten für die Betroffenen vielfach nicht erreichbar. Zudem seien in die Bearbeitung von Anträgen mehrere Behörden involviert.

In Deutschland waren zum 30. Juni 2022 nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe rund 447.000 Personen wohnungslos, 50.000 davon lebten ganz ohne Unterkunft. Fachleute unterscheiden zudem zwischen Obdach- und Wohnungslosigkeit. Obdachlos sind demnach
Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße („Platte machen“) oder Personen, die gelegentlich in Notunterkünften oder behelfsmäßig in Zelten und anderen Behausungen leben. Als wohnungslos gilt dagegen, wer keine mietvertraglich gesicherte Unterkunft oder Wohneigentum hat und etwa bei Bekannten oder Verwandten unterkommt.

„Wohnungslosigkeit ist die prekärste Form der Armut“, betonte Weishaupt: „Wohnungslos wird fast niemand freiwillig.“ Den Anteil der Frauen an Wohnungslosen gab Weishaupt gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit rund 30 Prozent an. Frauen seien „vulnerabler als Männer“, da sie oft nur über ein geringes Einkommen verfügten oder finanziell abhängig seien. Gleichzeitig hätten Frauen besondere Bedarfe, die im Hilfesystem strukturell aber nicht oder nur unzureichend abgebildet würden.

So gebe es in Göttingen, einer der von den Forschenden untersuchten Städte, kein hinreichendes frauenspezifisches ambulantes Angebot. Zimmer in den „Frauen-WGs“ seien oft mehrfach belegt, die Heilsarmee könne gar keine Frauen mehr aufnehmen. Auch Frauenhäuser seien selten die richtige Adresse, betonte der Wissenschaftler. Es gebe dort kein Personal für psychisch oder suchtkranke Frauen. Haustiere seien verboten, ebenso der Zugang mit älteren Söhnen.

An die Göttinger Stadtverwaltung appellierte Weishaupt, mehr ambulante, gemeinschaftsfördernde Angebote nur für Frauen zu schaffen. Für Frauen müsse es zudem Notunterkunft in Zimmern mit Einzelbelegung geben.