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“Wir verzichten auf Rache und Vergeltung”

Albert Reich ist dankbar. Vor 75 Jahren wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass die deutschen Heimatvertriebenen dereinst einmal eine solche Aufmerksamkeit bekommen würden und man ihre Charta als wegweisend würdigen würde, sagt der 92-jährige gebürtige Sudetendeutsche. Denn ein Festakt an diesem Dienstag (5. August) in Stuttgart soll an die Geschichte der Charta erinnern. Die Festrede wird Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) halten.

Mit 17 Jahren war Albert Reich dabei, als im August 1950 in Stuttgart beim ersten Tag der Heimat vor den Ruinen des Neuen Schlosses die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ verkündet wurde. „Als Vertriebene wurden wir damals oft argwöhnisch beäugt“, erinnert er sich.

Der Zweite Weltkrieg hatte Deutschland und weite Teile Europas als Trümmerwüste hinterlassen: Millionen Tote, zerstörte Städte und eine tief gespaltene Gesellschaft. Zu den Leidtragenden zählten in besonderer Weise die etwa 12 bis 14 Millionen Deutschen, die aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und anderen ost- und südosteuropäischen Ländern vertrieben worden waren.

Diese Zwangsumsiedlungen waren die Folge von Grenzverschiebungen und ethnischen Säuberungen, die im Potsdamer Abkommen von 1945 zwar indirekt legitimiert, in ihrem Ausmaß und ihrer Brutalität jedoch oft weit über den vereinbarten Rahmen hinausgingen. In unzähligen Trecks drängten Flüchtlingsströme aus den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten Ost- und Westpreußen, Danzig, Pommern, Ost-Brandenburg, Schlesien, dem Sudetenland und den Sprachinseln in der Tschechoslowakei, Südosteuropa und Russland gen Westen. Rund zwei Millionen überlebten Flucht und Vertreibung nicht.

Die Überlebenden, oft nur mit dem Nötigsten bepackt, waren entwurzelt, traumatisiert und standen vor dem Nichts. Ihre Integration war angesichts von Nahrungsmangel, materieller Not und psychischer Ausweglosigkeit eine immense Herausforderung. In dieser Zeit entstand das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Stimme, einer Organisation, die ihre Interessen vertrat und für ihre Rechte eintrat.

Am 5. August 1950 trafen sich in Stuttgart Vertreter der verschiedenen Landsmannschaften und unterzeichneten die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“. Die Wahl Stuttgarts als Ort der Unterzeichnung war dabei kein Zufall: Baden-Württemberg hatte eine große Zahl von Vertriebenen aufgenommen und war sich der Bedeutung ihrer Integration bewusst.

Die Charta war weniger ein Forderungskatalog als vielmehr eine Selbstverpflichtung der Vertriebenen. „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung“, heißt es in dem Dokument. Zugleich bekannten sich die Unterzeichner zu einem friedlichen Aufbau Europas. Das war ein revolutionärer Schritt, der in der damaligen emotional aufgeladenen Atmosphäre nicht selbstverständlich war. Statt auf Konfrontation setzte man auf Verständigung und Versöhnung.

Der Konstanzer Migrationsforscher Daniel Thym spricht von einer „veritablen Integrationskrise“, die Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt habe. „Mehr als zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches und angrenzenden Ländern in das heutige Bundesgebiet. Sie alle brauchten eine Wohnung und suchten Arbeit, was sich anfangs wegen der Kriegszerstörungen als schwierig erwies“, schreibt er in seinem Buch „Migration steuern“ (C.H. Beck). Die Betroffenen hätten noch Jahrzehnte später unter den Traumata von Flucht und Vertreibung gelitten.

Albert Reich hat das Thema zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Er engagierte sich in der Sudetendeutschen Jugend und im Bund der Vertriebenen. Später baute er das „Haus der Heimat“ mit auf, das er jahrelang leitete. Auch das Denkmal für die Opfer der Vertreibung am Kursaal in Bad-Cannstatt geht auf seine Initiative zurück. Dass jetzt so prominent an die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ und ihre zeitlose Bedeutung erinnert wird, macht ihn glücklich. Denn was damals geschehen sei, dürfe nicht vergessen werden. (1894/31.07.2025)