„Wir können nicht allein Kirche sein“

Seit 2015 leitete Annette Muhr-Nelson das Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen und Veränderungen in der weltweiten Ökumene.

Annette Muhr-Nelson sieht die weltweite Gemeinschaft der Kirchen als eine gemeinsame solidarische Suchbewegung.
Annette Muhr-Nelson sieht die weltweite Gemeinschaft der Kirchen als eine gemeinsame solidarische Suchbewegung.Amt für MÖWe

Sie beobachten die weltweite ökumenische Bewegung schon seit Jahrzehnten. Was hat sich verändert in der Zeit?
In den 1980er und -90er Jahren wurden die ökumenische Bewegung und der Weltkirchenrat (ÖRK) noch ganz anders wahrgenommen. Es gab Kampagnen wie den Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung oder die Dekade der Kirchen in Solidarität mit den Frauen, die wir hier in Westfalen mitgestaltet haben. Das schlug sich auch nieder in Stellen. Aus der Arbeitsstelle wurde das Amt für MÖWe in seiner jetzigen Form. Seit den 2000er Jahren sind die Kampagnen und Impulse von Seiten des ÖRK zurückgegangen.

Was ist an ihre Stelle getreten?
Zum einen der ökumenische Dialog vor Ort, zum Beispiel innerhalb der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK), der seit den 2000er Jahren erst richtig Fahrt aufgenommen hat. In diesem Rahmen ist etwa die Charta Oecumenica entstanden, in der Leitlinien für das Zusammenwachsen der Kirchen in Europa formuliert werden. Auch im internationalen Bereich hat sich der Fokus verlagert: Die Kirchen des Südens machen uns auf die globalen Auswirkungen von Ungleichheit und Klimawandel aufmerksam und fordern von den Kirchen des Nordens einen stärkeren Einsatz für ein gerechtes Wirtschaftssystem. Dadurch sind auch andere Formen der ökumenischen Arbeit entstanden, wie der Pilgerweg für Gerechtigkeit und Frieden. Er ist eine gemeinsame, solidarische Suchbewegung. Es geht da um Wahrnehmung und darum, Aufmerksamkeit zu schaffen.

Wie hat sich dadurch die Rolle der Kirchen in den reichen Ländern im Norden verändert?
Wir müssen alles sehr grundsätzlich auf den Prüfstand stellen: Wo setzen wir durch wohlmeinende finanzielle Unterstützung Abhängigkeiten fort? Wo dominieren wir mit unserer eurozentrischen Sicht die Debatte? Welche Themen werden von wem auf die Tagesordnung gesetzt? Wie sind die Gremien besetzt? Können wir Macht abgeben und Strukturen für wirkliche Teilhabe schaffen? Das sind Fragen, die individuell zu beantworten sind, aber auch strukturell von unserer Kirche, von den Partnerschaftsausschüssen etc.

Staunen über die Buntheit des christlichen Glaubens

Hat sich dadurch auch eine neue Spiritualität entwickelt?
Ja, das ist für mich ganz wichtig geworden. Andere Frömmigkeitsformen entsprechen nicht immer meinem Geschmack, aber wenn ich mich für sie öffne, lerne ich von ihnen und lasse mich gemeinsam mit anderen durch Gottes Geist überraschen und bewegen. Ich habe durch die vielen Begegnungen mit Christinnen und Christen aus anderen Ländern und Glaubenstraditionen Demut gelernt und staune über die Buntheit des christlichen Glaubens.

Können Sie von so einer Begegnung erzählen?
2017 war ich auf Lampedusa. Dort landen nach wie vor viele Flüchtlinge, die das Mittelmeer überqueren. 2013 war direkt vor der Küste ein Flüchtlingsboot untergegangen. Ich habe einen einheimischen Fischer kennengelernt, der geholfen hat, einige zu retten. Er musste entscheiden, welche Hand er ergreift – und welche nicht. Das hat ihn so traumatisiert, dass er drei Jahre lang nicht sprechen konnte. Es hat mich sehr bewegt, als dieser Mann im Gottesdienst ein Gebet sprach. Unter anderem diese Begegnung hat mich in meiner Haltung geprägt: Wir müssen Zeichen der Menschlichkeit setzen, begleiten, sichtbar sein. Jede und jeder kann an einer Stelle dazu einen Beitrag leisten.

Hat sich das auch auf Ihre Theologie ausgewirkt?
Ja, mein Blick auf die Welt ist ganzheitlicher geworden. Alles hängt mit allem zusammen. Nicht nur wir Menschen sind Geschöpfe Gottes, die Respekt verdienen; auch die Tiere zählen dazu, ja, die ganze Erde. Das können wir auch christologisch durchdenken: Christus war der Erste der Schöpfung, in ihm ist alles geschaffen – also hat alles seine Würde und seinen Wert in ihm. An dieser Stelle klingen wir übrigens mit unseren orthodoxen Glaubensgeschwistern zusammen.

Entwicklung vom Missionswerk zu einer internationalen Kirchengemeinschaft

Was hat sich im Laufe der vergangenen Jahre in den globalen Beziehungen verändert?
Durch das Gespräch mit unseren Partnerkirchen in Afrika und Asien findet eine permanente Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und ihren Folgen statt. Gemeinsam setzen wir uns mit Rassismus, Abhängigkeitsverhältnissen, Ausbeutungsstrukturen etc. auseinander. Dabei ist auch wichtig, dass nicht alle Missionare auf Seiten der Kolonialmacht standen. Die Bethelmission etwa hat sich in Tansania für Bildung von Mädchen eingesetzt. Dafür sind manche Partnergemeinden heute noch dankbar. Die Vereinte Evangelische Mission (VEM) wiederum hat sich von einem Missionswerk zu einer internationalen Kirchengemeinschaft entwickelt, in der sich alle Mitgliedskirchen an den Entscheidungen und der Finanzierung der Arbeit beteiligen.

Und was ist mit dem Missionsverständnis?
Das diskutieren wir innerhalb der VEM genauso leidenschaftlich wie innerhalb unserer eigenen Kirche. Man kann grob unterscheiden zwischen Evangelisation und Mission. Evangelisation lädt gezielt zum Glauben an Jesus Christus ein; Mission versteht Kirche und Christentum in der Nachfolge Jesu als Teil der „Missio Dei“, der Absicht Gottes, diese Welt zum Guten zu verändern. Mit unserem Glauben sollen wir natürlich nicht hinterm Berg halten und Auskunft geben können über das, was wir da tun und warum wir es tun.

Wie würden Sie die Rolle der ökumenischen Bewegung für die Zukunft beschreiben?
In den vergangenen zehn Jahren ist immer deutlicher geworden, dass unsere Kirche nicht allein Kirche in der Welt sein kann. Wir brauchen dazu Partnerinnen und Partner, in der weltweiten Ökumene und darüber hinaus, etwa in der Klimaschutzbewegung oder im Engagement für Geflüchtete. Dabei müssen wir über unseren Glauben Auskunft geben können, freundlich und frei. Unsere Rolle ist es, da zu sein, Hoffnung zu stiften, Trost zu spenden. Wir sind alle gemeinsam unterwegs auf Gottes Weg, den wir nicht selbst bestimmen.