Für ein besseres Einkommen nehmen Seeleute, oft von den Philippinen, die monatelange Trennung von Familie und Freunden in Kauf. Dank Internet ist das Zuhause heute immerhin nur einen Anruf entfernt. Das war früher anders.
Mark Pallada ist Seemann, seine Tochter wächst zehntausende Kilometer entfernt von ihm auf. Palladas Stimme bricht, als er ein Foto zeigt, auf dem seine Frau die Zweijährige in den Armen hält. “Manchmal mögen die Kinder die Mutter lieber”, sagt er und senkt den Blick auf den Tisch. Sie kümmert sich auf den Philippinen um die Tochter, während er immer wieder für sechs bis neun Monaten als Ingenieur auf einem Frachtenschiff anheuert, das über die Weltmeere fährt. Rund 3.000 Dollar brutto verdient er so im Monat – mehr, als er je in seinem Heimatland verdienen könnte.
Mit drei Kollegen verbringt der Ingenieur seinen Landgang im Seemannsclub “Welcome” der Seemannsmission in Bremerhaven. Die Mission bietet Seeleuten aus aller Welt praktische Unterstützung sowie seelsorgerische und soziale Begleitung während ihres Aufenthalts im Hafen. Rund ein Viertel aller Seeleute weltweit kommt nach Angaben der Generaldirektion Mobilität und Verkehr der Europäischen Kommission von den Philippinen.
Die Männer sind seit zwei Monaten unterwegs, berichten sie – so lange haben sie ihre Familien nicht mehr gesehen. Fünf weitere Monate auf See lägen noch vor ihnen. Das Internet ist zwar ein Brückenbauer, doch das Heimweh bleibt. Um Kontakt zu halten, greifen sie auf Live-Videos, Facebook-Posts oder Telefonate zurück. Ein Seemann aus der Gruppe stellt ein Bier auf den Tisch, lehnt sein Handy für ein Live-Video daran und setzt sich zu den anderen Crew-Mitgliedern.
Über 10.000 Kilometer Luftlinie entfernt können ihnen Familie und Freunde nun zusehen, wie sie sich unterhalten. Jeder hat ein Bier vor sich stehen. Die Chipstüte klafft in der Mitte offen auf dem Tisch. Die Zutaten für Erholung sind bei vielen Seeleuten im Club: Bier, Chips und Handyzeit. Die WLAN-Freizeit nutzen viele nicht nur für Kontakt mit der Familie oder Online-Spiele, sondern auch, um Filme herunterzuladen. Zeit vor dem Bildschirm ist für sie eine Methode, das Heimweh zu umschiffen.
Zwei Seeleute kaufen sich das Bier nicht aus dem Kühlschrank des Clubs, sondern erspielen es sich am Billardtisch. Wer verliert, besorgt dem anderen eine Flasche. Rolan Obeso schaut den jungen Männern aus seiner Crew lieber zu. Er ist mit 60 Jahren ein Seemanns-Urgestein. 1988, mit 23 Jahren, heuerte er das erste Mal an. Inzwischen sei auch der älteste Sohn seiner vier Kinder als Seemann unterwegs.
Für Obeso ist Heimweh selten ein Thema gewesen, sagt er. Ihn habe es schon immer in die Welt gezogen. Er lebe strikt nach der Maßgabe: Wenn ich arbeite, denke ich an die Arbeit, in der Freizeit an meine Familie. Drei- bis viermal am Tag ruft Obeso seine Familie an. Durch das Internet sei die Familien-Fernbeziehung leichter geworden. In seinen Anfangszeiten schrieben seine Frau und er Briefe. “Wenn ich sie bekommen habe, habe ich sie geküsst, vor allem wenn Fotos darin waren.”
Es ist 20.30 Uhr: Von den Chips ist nur noch die Tüte übrig. Auf den Tischen sammeln sich die leeren Bierflaschen der rund 40 Gäste des Tages. Eine Gruppe macht sich zu einem einstündigen Spaziergang zum Supermarkt auf. Vor der mehrmonatigen Überfahrt kannten sich die Männer nicht. Bevor die Frachtschiffe losfahren, werde das Team jedes Mal neu zusammengemischt. Doch die Fahrten über verschiedene Kontinente schweißt die Crew zusammen. Sie bezeichnen ihr Verhältnis als “Bruderschaft”.
So legt einer dem anderen den Arm um die Schulter. Sie lächeln sich an. Im Gleichschritt laufen sie an der Straße entlang. Ein dritter kommt hinzu. Er zückt das Handy und filmt sich mit seinen neuen Freunden. Teil der brüderlichen Crew ist auch Jerry Pugoy, 50 Jahre alt und Seemann seit er 21 ist. Überzeugter Seemann, denn das Geld müsse schließlich reinkommen. Davon hält ihn auch nicht ab, dass er 1998 das Sinken des Schiffes “Princess of the Orient” überlebt habe. Mehr als hundert Menschen sollen bei dem Unglück gestorben sein.
Er habe rund zwölf Stunden mit Rettungsweste im Meer getrieben, bis er gerettet wurde. Ein Jahr setzte er aus, hatte nachts Alpträume. Seine Frau habe ihn im Traum schreien gehört. Dann ein Anruf, eine Anfrage. Er sagte zu, er wollte es noch einmal probieren. Daran hätten auch seine Eltern nichts ändern können, die versuchten, ihn abzuhalten. So wurde er wieder Teil eines Teams. Heute könne er das Erlebte ausblenden und die Zeit mit seinen Crew-Mitgliedern wieder genießen. Und wenn ihn und die anderen doch das Heimweh packt, hat er das Handy griffbereit in der Tasche.