Wie Niger versucht sich mit Bildung gegen den Terror zu wehren

Der westafrikanische Staat Niger kämpft mit Armut und Terror. Die Regierung will dem mit Bildung begegnen und Kinder, wie die zwölfjährige Habsed Abdulkarim, fördern. Es ist ein schweres Unterfangen.

Lehrerin Bibata Gada vor der Grundschulklasse im Vertriebenenlager bei Ouallam in Niger
Lehrerin Bibata Gada vor der Grundschulklasse im Vertriebenenlager bei Ouallam in Nigerepd-bild / Bettina Ruehl

Habsed Abdulkarim hat Hunger. Es ist kurz vor Mittag und die Zwölfjährige hat heute noch nichts gegessen. Immerhin – sie weiß, dass es gleich etwas geben wird. Ihre Schule in Ouallam im Niger hat eine Kantine, in der die etwa 770 Schülerinnen und Schüler Mittagessen bekommen. Etwa 100 Kilometer nördlich der Hauptstadt Niamey besuchen Kinder die Schule, die mit ihren Familien aus anderen Landesteilen vor Gewalt fliehen mussten. Heute köchelt Hirsebrei in neun großen Töpfen, die unter freiem Himmel auf Feuerstellen stehen. Dazu wird gleich eine Sauce aus lokal angebautem Blattgemüse verteilt.

„Ich lerne gerne“, beteuert Habsed auf Französisch, das sie leidlich gut versteht, obwohl sie erst in der vierten Klasse ist und die fremde Sprache noch nicht lange lernt. Sie käme auch zum Unterricht, wenn die tägliche Mahlzeit nicht locken würde, versichert sie. Ihre Lehrerin Bibata Gada bezweifelt das: „Dass sie hier zu essen kriegen, ist für die Kinder ein starker Anreiz“, sagt die 58-Jährige. „Hungrig könnten sie sich sowieso nicht konzentrieren.“ Außerdem würden sie mit leerem Magen Geld oder Essen suchen.

Um das zu verhindern und die Kinder im Unterricht zu halten, unterstützt das UN-Ernährungsprogramm WFP die nigrische Regierung in ihrem Ziel, den Schülerinnen und Schülern wenigstens einmal täglich eine möglichst nährstoffreiche Mahlzeit anzubieten. Denn viele Eltern schaffen das nicht aus eigener Kraft. Im Land mit dem niedrigsten Entwicklungsindex der Welt leben rund 40 Prozent der etwa 25-Millionen-Bevölkerung in extremer Armut.

Gemeinsames Mittagessen in der Grundschule im Vertriebenenlager
Gemeinsames Mittagessen in der Grundschule im Vertriebenenlagerepd-bild / Bettina Ruehl

Das liegt neben dem sehr hohen Bevölkerungswachstum von 3,9 Prozent und dem Wechsel von Dürreperioden und Überschwemmungen infolge der Klimakrise an der desaströsen Sicherheitslage, die sich ständig weiter verschlechtert. In Niger sind mehrere islamistische Gruppen aktiv, vor allem im Dreiländereck mit Mali und Burkina Faso, aber auch im Südosten in der Region des Tschadsees. Rund 300.000 Flüchtlinge aus den Nachbarländern und fast 380.000 Binnenvertriebe sind innerhalb der Landesgrenzen auf der Suche nach einer sicheren Bleibe.

Dennoch legt der seit April 2021 amtierende Präsident Mahomad Bazoum einen Schwerpunkt auf Bildung. 20 Prozent des Budgets sind laut Bildungsminister Ibrahim Natatou für sein Ressort vorgesehen – fast eine Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr. Doch das Ziel ist nicht leicht zu erreichen. Anfang November waren nach Angaben Natatous mehr als 800 Schulen geschlossen, weil sie aufgrund des Terrors nicht mehr zugänglich waren. Für 72.000 Schülerinnen und Schüler fällt damit der Unterricht aus, Tendenz steigend.

Die Regierung versuche alles, um den Trend zu brechen, versichert Natatou. Bis er im Mai 2022 sein Ressort übernahm, lehrte er Chemie an der Universität von Niamey. Er hat alle wichtigen Daten zum nigrischen Bildungssystem aus dem Kopf parat, nicht einmal sechsstellige Zahlen muss er runden.

Weitere Hürden für Natatous Ziele sind fehlende Infrastruktur und Ressourcen: Zwei Drittel der Nigrerinnen und Nigrer können weder lesen noch schreiben, rund vier Millionen Jungen und Mädchen gehen nicht in die Schule, obwohl sie im entsprechenden Alter wären. Die nigrische Bevölkerung ist jung, sie verdoppelt sich alle 18 Jahre – selbst ein reiches Land könnte diesen permanenten Ausbau des Schulsystems kaum leisten.

Schuldirektor Lawali Mahamadou in seinem provisorischen Büro
Schuldirektor Lawali Mahamadou in seinem provisorischen Büroepd-bild/Bettina Ruehl

Trotzdem wolle die Regierung bis 2026 viel erreichen, sagt Natatou und zählt auf: Für Kinder aus Konfliktgebieten sollen 76 neue Schulzentren entstehen. 36.000 Klassenräume aus Strohmatten sollen in permanente Strukturen verwandelt werden, die auch Starkregenfälle überstehen. Zudem will die Regierung 100 Mädcheninternate bauen, denn sie sieht in der Bildungsförderung von Mädchen den wichtigsten Weg, um die hohe Geburtenrate zu senken.

Als wolle er sich nicht einmal angesichts dieser Ziele entmutigen lassen, verweist der Minister auf das, was schon geschehen sei: Sieben Mädcheninternate stehen kurz vor der Einweihung, in zweien konnte der Schulbetrieb kürzlich aufgenommen werden, sie werden vom WFP mit Schulspeisungen unterstützt.

Auch um diese Bemühungen zu unterstützen, laden unter anderem Deutschland und Niger für Donnerstag und Freitag zu einem Bildungsgipfel nach Genf ein. Ziel ist es, Geld für den UN-Bildungsfonds (ECW) zu sammeln, damit 222 Millionen Kinder in Kriegs- und Katastrophengebieten lernen können.

Im Vertriebenenlager von Ouallam, in dem auch Habsed Abulkarim lernt, leben rund 5.000 Geflüchtete, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. „Jeden Tag suchen hier mehr Menschen Zuflucht“, sagt Schuldirektor Lawali Mahamadou. Weil alle Räume für den Unterricht gebraucht werden, hat er in einer der Klassen einen Bereich als Büro für sich abgeteilt. Dort geht er hinter seinem Schreibtisch zwischen Heften und nicht ausgepackten Bücherstapeln fast unter. „Die Bücher sind für die Vertriebenen, die wir noch erwarten“, sagt er.