Wie Menschen sich mit überzogenem Perfektionismus selbst schaden

Insbesondere junge Menschen leiden häufig unter einem Drang, im sozialen Vergleich möglichst optimal abzuschneiden. Fachleute sehen in überzogenem Perfektionismus allerdings keine Stärke.

 Es ist ein Klassiker im Vorstellungsgespräch. Um sich keine Blöße zu geben, etwa eine Neigung zu Unpünktlichkeit zuzugeben oder dass man in Stresssituationen schnell mal laut wird, weichen Jobkandidatinnen und -kandidaten auf eine „gute Schwäche“ aus: Perfektionismus. Aus Sicht von Evelien Bijl, Coach und Autorin, ist das verkehrt. „Perfektionismus ist keine Stärke“, sagte sie kürzlich der Zeitschrift „Flow“.

Fachleute unterscheiden klar zwischen Selbstdisziplin und Engagement einerseits, um konkrete und realistische Ziele zu erreichen – und einem ungesunden Aufopfern andererseits. Auf übertriebenen Perfektionismus können laut Bijl sowohl eine Übererfüllung von Aufgaben hindeuten als auch ständiges Aufschieben. Beide Verhaltensweisen hätten ihren Ursprung in der „Angst, einem Anspruch nicht gerecht zu werden“.

Eine entscheidende Frage ist, welchem Anspruch man da eigentlich gerecht werden möchte – und aus welchen Gründen. Vor allem bei jungen Menschen beobachtet der britische Psychologe Thomas Curran, dass der sogenannte sozial vorgeschriebene Perfektionismus stark ausgeprägt sei: „Der bezieht sich auf Menschen, die denken, andere hätten unerreichbar hohe Ansprüche an sie“, sagte er der „Zeit“-Beilage „Christ & Welt“. Sinnvoller sei es, sich immer wieder auf die eigenen Überzeugungen und Motivationen zu besinnen.

Die Floristin, die jeden Stängel in einem Blumenstrauß liebevoll zurechtzupft oder der Koch, der stolz ist auf das auf den Punkt gebratene Steak – solche Formen von Perfektionismus können anspornen und erfreuen. Als Persönlichkeitsmerkmal betrifft Perfektionismus die Menschen in unterschiedlichem Maß, erklärt Curran: Die einen leiden darunter, während andere lediglich in bestimmten Bereichen perfektionistisch sind und manche sich überhaupt nur selten die Frage stellen, „wie sie aussehen oder wie sie rüberkommen“.

Wer unter überzogenem Perfektionismus leidet, neigt derweil häufig dazu, vermeintliche Defizite in den Mittelpunkt zu rücken: Durch einen Pickel am Kinn fühlt man sich hässlich, ein staubiges Bücherregal lässt die ganze Wohnung als „Riesenchaos“ erscheinen, und wenn man das Büro einmal zehn Minuten früher verlässt, fühlt man sich als Faulpelz und Drückeberger. Vergleiche mit anderen, die ihr Äußeres, ihr Auftreten oder gleich ihr ganzes Leben besser im Griff zu haben scheinen, tun ihr Übriges.

Manche Menschen litten auch unter emotionalem Perfektionismus, erklärt Bijl, „bei dem man sich auf der Gefühlsebene viel abverlangt“. Betroffene ärgerten sich beispielsweise, wenn sie traurig seien oder ermahnten sich selbst, wenn sie eine Sache falsch eingeschätzt hätten. Dabei schwinge die Erwartung mit, mit sich und der eigenen Leistung „immer vollkommen zufrieden sein zu wollen“.

Eine solche Erwartung ist offenkundig unrealistisch – aber verbreitet. Dazu trage auch moderne Gesellschaft bei, mahnt Curran: Sie erlaube es nicht, sich „zurückzulehnen und aufzuhören, nach mehr zu streben“. Perfektionismus funktioniere „wie eine Art Rüstung, um das wahre, verletzliche Ich zu schützen.“ Allerdings: „Es braucht nur einen kleinen Fehler, ein falsches Wort oder einen falschen Blick, und die Perfektionismus-Rüstung zerbricht wie hauchdünnes Porzellan.“

Sinnvoller für die mentale Gesundheit sei es, zu verstehen, dass man Fehler machen dürfe – und trotzdem liebenswert sei. Nicht aus jedem Fehlschlag lasse sich etwas lernen, so der Autor des Buchs „Nie gut genug“. „Manchmal hatten wir einfach einen schlechten Tag, manchmal gehen Dinge einfach schief.“ Auch Bijl unterstreicht, dass sich Erfahrungen nicht statisch in Erfolg und Misserfolg aufteilen ließen, wie es Perfektionistinnen und Perfektionisten oft täten.

Vielmehr empfehlen Fachleute mehr „Glimmer-Momente“: bewusst erlebte kleine Lichtblicke in der Natur, durch Sport oder Meditation, Tanz oder Musik – als Gegenmittel gegen allzu negative Gedanken und Gefühle. Und wenn es nicht rund läuft, rät Curran, sich zu fragen, was man einem Freund oder einer Freundin in dieser Lage sagen würde – und so auch mit sich selbst umzugehen.