Wie man Psychopharmaka bei Menschen mit Demenz vermeiden kann

Fast die Hälfte aller mit Demenz in Pflegeheimen lebenden Menschen bekommen Psychopharmaka. Ein Pflegeexperte hält das für grundfalsch – und nennt Alternativen.

Der alte Mensch, der sich morgens partout nicht duschen lassen will und handgreiflich gegen das Pflegepersonal wird. Die bettlägerige Seniorin, die immer wieder lautstark am Gitter ihres Bettes rüttelt. Der Senior, der im Gemeinschaftsraum ständig schreit. – Solch “herausforderndes Verhalten”, wie es auch genannt wird, kommt in Senioreneinrichtungen, aber auch bei der Pflege dementer Menschen zu Hause immer wieder vor. Nicht selten wird dann laut dem Kölner Pflegeexperten Henry Kieschnick zu Psychopharmaka gegriffen.

Diese werden Studien zufolge bei alten Menschen überdurchschnittlich häufig eingesetzt, teilweise sogar mehrere gleichzeitig. Laut dem AOK-Pflege-Report 2023 bekommen bis zu 30 Prozent aller Pflegebedürftigen in deutschen Pflegeheimen Antipsychotika; bei Menschen mit Demenz sogar bis zu 45 Prozent. Bereits 2017 stellte der AOK-Report fest, dass ihnen Psychopharmaka vor allem bei herausforderndem Verhalten verabreicht würden.

Kieschnick, Referent für stationäre Altenhilfe beim Diözesan-Caritasverband im Erzbistum Köln, beobachtet dies mit Sorge. Psychopharmaka dienen der Behandlung psychischer oder psychiatrischer Störungen wie einer akuten Psychose. “Sie helfen in der Regel nicht bei einer Demenzerkrankung”, betont Kieschnick. Vielmehr schadeten sie den Betroffenen eher: Sie machten oft müde und sorgten für eine vernebelte Wahrnehmung. Dadurch schränkten sie die Selbstständigkeit und Kommunikationsfähigkeit demenziell Erkrankter weiter ein und erhöhten beispielsweise das Sturzrisiko.

Sein Appell an Pflegekräfte und Angehörige: Menschen mit Demenz anders begegnen, sich mehr Mühe geben und “die möglichen Ursachen für dieses besondere Verhalten ergründen”. Verhaltensauffälligkeiten wie Schreien, Tätlichkeiten gegen sich und andere oder innere Unruhe mit Bewegungsdrang sind nach der Erfahrung des Pflegeexperten oft eine Ausdrucksform für unerfüllte Bedürfnisse des alten Menschen. Weil dieser aufgrund seiner Demenz Wünsche, Gefühle, Anliegen und Probleme nicht mehr angemessen ausdrücken könne, müsse er eine andere Form dafür finden – durch Verhalten, das sich dem Umfeld oft nicht direkt erschließe.

Kieschnick hat 2021 bis 2023 ein Praxisprojekt begleitet, bei dem es um den defensiveren Einsatz von Psychopharmaka in der Altenhilfe ging. Ziel war es, Lösungen für den Pflegealltag zu finden. Ein Ergebnis: Oft gibt es relativ simple und einfach zu lösende Gründe für das besondere Verhalten.

Eine Ursache können demnach körperliche Bedürfnisse sein, die nicht gesehen werden: Hunger oder Durst, Harndrang oder Bewegungsmangel. Und: “Bis zu 80 Prozent des besonderen Verhaltens sind auf Schmerzen zurückzuführen”, weiß Kieschnick aus Studien. Auch Gefühle wie Angst, Trauer, Heimweh, fehlende Kontakte, Mangel an Geborgenheit, Bindung und Wertschätzung könnten mitunter ein Grund sein. Für Unwohlsein sorgten oft zudem umgebungsbezogene Ursachen wie eine fehlende Rückzugsmöglichkeit, unangenehmes Licht, zu viele akustische oder optische Eindrücke oder eine als zu hoch oder niedrig empfundene Raumtemperatur. Werde dies mit in Erwägung gezogen, könnte dem alten Menschen gezielt geholfen werden.

Deshalb gelte es, “bei jedem Menschen die individuellen Gründe herauszufinden, wie es ihm oder ihr besser gehen kann – es gibt viel, was ohne Psychopharmaka gelöst werden kann”, sagt der Pflegeexperte. So könnten konstante Bezugspersonen, Berührungen und individuell geeignete Beschäftigungen das Unwohlsein von Menschen mit Demenz lindern.

Über vertraute Alltagsbewegungen wie Kartoffelschälen oder das Ausräumen der Spülmaschine könne beispielsweise der Bewegungsdrang gelenkt und Selbstwirksamkeit erlebt werden. Auch Material zum Anfassen sorge für Wohlempfinden, ebenso tiergestützte Angebote, bei dem an Demenz Erkrankte “über den Weg der Tiere einen Glücksmoment erleben”. In manchen Einrichtungen werde auch mit den Bewohnern getanzt.

Eine weitere Erkenntnis aus dem Projekt: Festgelegte Abläufe und Zeiten bei der Pflege sind zu hinterfragen. Gerade demenziell veränderte Menschen hätten oft einen anderen Rhythmus; deshalb sollten deren Bedürfnisse im Tageslauf angemessen berücksichtigt werden.

“Man sollte sich bei herausforderndem Verhalten immer fragen: Passt der Zeitpunkt der Pflege oder des Angebots dem alten Menschen gerade?” Vielleicht reagiere ein Senior unwirsch auf ein Pflegeangebot, weil er sich selbst duschen und nur bei Bedarf unterstützen lassen möchte. “Dafür muss ich aber wissen, was den Bewohnern guttut, die in meinem Wohnbereich leben.”

Oft werde lieber zu Psychopharmaka gegriffen, als den Ursachen für Unwohlsein auf den Grund zu gehen – “weil das Arbeit macht und Zeit kostet”. Kieschnick wünscht sich, dass allen Mitarbeitenden – inklusive Empfangskraft und Reinigungspersonal – Basiswissen über Demenz vermittelt wird. Dadurch reduziere sich das auffällige Verhalten, weil man ihm fachlich angemessener begegnen könne; die Betroffenen fühlten sich wohler, und das Personal spare dadurch sehr viel Zeit.

“Es ist viel Vorarbeit, aber es lohnt sich”, weiß der Pflegeexperte. Psychopharmaka könnten reduziert oder ganz vermieden werden, “wenn alle Beteiligten fachlich gut arbeiten”, erklärt Kieschnick. So wie im Resi Stemmler Haus in Euskirchen. Die Einrichtung, die an dem Caritas-Projekt beteiligt war, komme inzwischen komplett ohne Psychopharmaka aus, obwohl in dem Altenpflegeheim ausschließlich Menschen mit Demenz leben. “Es geht also.”