„Ich habe eine Weile gebraucht, um mir darüber klar zu werden, wie ernst ich das meine und was das bedeutet“, sagt Claus Burgdorff. Der 78-jährige Lübecker will nach seinem Tod seinen Körper der Wissenschaft spenden. „Ich wurde schon einige Male in Lübeck im Krankenhaus behandelt und weiß die Arbeit sehr zu schätzen“, sagt Burgdorff. Es sei ein schöner Gedanke, dazu beizutragen, dass junge Ärzte Menschen weiterhelfen können. Burgdorff: „Ich gebe meinen Körper frei.“ Außerdem wolle er nach seinem Tod niemandem zur Last fallen, sagt er. „Die Vorstellung, dass meine Jungs sich zu meinem Grab quälen müssen, fand ich nicht gut.“
Der Körper sei nur eine physische Hülle. „Je nach Weltanschauung passieren dann zwar Dinge nach dem Tod, aber das weiß ich nicht“, sagt Burgdorff. Er selbst definiert sich als Agnostiker. „Klar hatte ich Sorge, dass sie vielleicht Scherze mit meinem Körper treiben. Das wäre das Einzige, worüber ich nicht erfreut wäre“, sagt er. „Aber in der Anatomie herrschen sehr strenge, ethische Maßstäbe.“
Niemandem zur Last fallen. Der Wissenschaft etwas zurückgeben. Das seien häufig die Gründe für eine Entscheidung zur Körperspende, bestätigt Volker Spindler. Er leitet eines der beiden Anatomischen Institute am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). Die Spende entlaste die Hinterbliebenen finanziell. Bestattungen kosten laut Statista im Durchschnitt 13.000 Euro. Am UKE werden bei Körperspenden 1.500 Euro fällig. „Damit decken wir einen Teil der externen Kosten ab.“ Wer seinen Körper spenden will, muss zu Lebzeiten eine Vereinbarung mit einem entsprechenden Institut abschließen. „Ein Widerruf des Vermächtnisses ist jederzeit möglich“, sagt Spindler.
Nach dem Tod setzen sich die Angehörigen oder die behandelnden Ärzte mit dem Klinikum in Verbindung. „Wir kümmern uns um den Transport durch ein Bestattungsinstitut zum UKE“, erklärt Spindler. Dann muss der Körper erst einmal haltbar gemacht werden. Das dauert ein halbes Jahr. Drei Semester präparieren die Studierenden dann an dem Körper. „Für viele Studierende ist das der erste ‘Patient’ und der erste Tote, den sie zu Gesicht bekommen“, sagt Spindler.
Vom Abi in den Präparationssaal. Das ist ein extremer Schritt. „Das ist oft die erste Konfrontation mit dem Tod für die Studierenden“, weiß der Anatomieprofessor. „Man fragt sich, was das wohl für ein Mensch war. Obwohl die Körper alle einen ähnlichen Bauplan haben, hatten sie doch alle zu Lebzeiten ihre eigenen Wünsche, Träume und Ziele“, sinniert er. Das schaffe Bindung. Die Studierenden sprechen immer von „ihrem Körperspender“. Dabei lernen sie nicht nur Schnitte oder die Lage der verschiedenen Gewebe und Organe und wie sie sich anfühlen, sondern auch, die nötige Balance zwischen Empathie und professioneller Distanz zu wahren.
Immer acht bis zehn Studierende lernen an einem Körper. Haut, Nerven, Bindegewebe. „Man kann einen Körper nicht verstehen, wenn man ihn nur aus dem Anatomieatlas oder von Abbildungen, auch wenn sie noch so komplex sind, kennt“, sagt der Professor. Die Dreidimensionalität, wie unterschiedlich ein und dasselbe Organ oder die Vielzahl an den Gefäßen und Nerven in den verschiedenen Körpern aussehen können – all das lasse sich nur beim Präparieren erlernen. „Es geht nicht nur ums Sehen. Man muss einen Körper fühlen, um ihn begreifen zu können.“
Alles, was bei der Präparation entfernt wird, bleibe dem entsprechenden Körper zugeordnet, sodass er vollständig bleibe. Am Ende werde er eingeäschert und entweder auf dem Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof in Niendorf beigesetzt oder den Angehörigen zurückgegeben, die den Körper dann beispielsweise im Familiengrab beisetzen können. Gut 90 Prozent der Angehörigen entscheiden sich demnach für eine Beisetzung in der Gedenkstätte in Niendorf.
Das System der Körperspende war nicht immer so. Noch bis in die 1950er Jahre wurden Menschen ohne bekannte Angehörige aus den Armenhäusern zur Ausbildung von Medizinern genutzt. „Ethisch fragwürdig, denn man wusste nicht, ob der tote Mensch damit einverstanden war“, sagt Spindler. Heute ist eine Körperspende ab 50 Jahren möglich. Infrage kommen Menschen, die in einem Umkreis von 50 Kilometern rund um das UKE leben.
Mit den Angehörigen darüber zu sprechen, sei enorm wichtig. Denn ein gespendeter Körper kann oftmals erst nach drei oder vier Jahren bestattet werden. Das ist für die Hinterbliebenen nicht immer leicht. „Wenn die Angehörigen nicht einverstanden sind, dann macht eine Spende auch keinen Sinn“, sagt Spindler.
„Für viele Menschen ist es wichtig, eine Trauerfeier als Abschluss zu haben“, sagt Samone Fabricius. Sie ist Pastorin in der St.-Willehad-Kirche in Groß Grönau (Kreis Herzogtum Lauenburg). Auf dem kleinen Friedhof werden die Körper der Spender aus Lübeck beerdigt. Seit Mitte der Neunzigerjahre besteht das Grabfeld mit einem großen Gedenkstein.
Drei bis vier Mal im Jahr organisieren die Studierenden der Lübecker Anatomie eine Gedenkfeier in der St.-Willehad-Kirche. „Es ist für die Angehörigen schön zu erleben, wie die Studierenden mit den Spendern umgehen“, sagt Pastorin Fabricius.
Auch Claus Burgdorff wird irgendwann in Groß Grönau liegen, zusammen mit seiner Frau. Denn auch sie hat sich zur Spende entschieden. „Manchmal denke ich, es ist schon ganz schön komisch, was ich da mache“, sagt Burgdorff. „Aber andere lassen sich nach ihrem Tod im Meer versenken. Die Vorstellung finde ich auch nicht wirklich kuschelig.“