Wie Haare Gefühle und Gesellschaft prägen
Es ist nicht an den Haaren herbeigezogen: Was den Menschen an Kopf und Körper bedeckt, spielt eine große Rolle. Das Haar beschäftigt Wissenschaftler, Kunstschaffende und Menschen, die gegen Diskriminierung kämpfen.
“Ein Haar ist etwas, das tot und lebendig zugleich ist. Es sprießt aus der lebendigen Wurzel. Doch alles, was dann herauswächst, ist totes Material.” Das sagt Miriam Bettin, die Kuratorin am Museum Folkwang ist und dort kürzlich eine Ausstellung eröffnet hat, die sich dem menschlichen Haar und seiner Bedeutung widmet. “Grow it, show it” – die Liedzeile aus dem Musical “Hair” hat der Schau den Titel gegeben.
Die Ausstellung zeigt Fotografien und Videos – vom 19. Jahrhundert mit strengen Frisuren bis heute, wo Haare und Stylingtipps auf Social Media inszeniert werden. Bei der Auswahl der Fotografien sei ihnen aufgefallen, dass Haare auf den ersten Blick oft wie Beiwerk anmuten, sagt Bettin. “Wenn man aber genauer hinschaut, sieht man: Sie sind sehr häufig eine Aussage über Status, Macht und Gesellschaft.”
Fünf Millionen Hornfäden bedecken den Körper des Homo sapiens durchschnittlich. Was für Neandertaler Ötzi noch ein wärmender Lebensschutz war, ist inzwischen auf einen Bruchteil geschrumpft – und doch entscheidend. Besonders das Haupthaar prägt die menschliche Identität – die weltweit ein bis zwei Prozent Trägerinnen und Träger roten Haares ebenso wie die zwei Prozent mit blondem Haar oder den Großteil der Weltbevölkerung, der braunes oder schwarzes Haar hat. Wenn es um die Beschaffenheit der eigenen Pracht nach dem morgendlichen Aufstehen geht, findet dann wohl über 90 Prozent der Menschheit ein Haar in der Suppe.
Es sind doch nur Haare, mag mancher denken. Immerhin verliert ein gesunder Erwachsener 70 bis 100 Stück am Tag (von 75.000 bis 110.000, je nach Haarfarbe). Doch es sind eben nicht “nur” Haare – sie prägen den Menschen weit mehr, als man vermuten würde.
“Haare kommunizieren, sie senden Botschaften und schaffen Identitäten”, sagt Bettin. In Essen zu sehen sind die strengen, artigen Frisuren von Frauen auf der Schwelle ins 20. Jahrhundert und die Nachkriegs-Bubiköpfe, die Frauen auch optisch mehr und mehr männliche Bereiche erobern ließen. Es gibt das Vorher/Nachher-Porträt Herlinde Koelbls von Angela Merkel rund um den Beginn ihrer Kanzlerschaft. Erst zugeknöpft-ängstlich und pseudo-maskulin mit Topfhaarschnitt. Ab 2005 locker, offen, auf dem Weg zur “Mutti”, das Haar: modisch-präsidial. Die Republik staunte. Merkel war selbstbewusst geworden, auch durch ihre neue Frisur.
Auch Männer emanzipieren sich nicht selten über ihr Haar – man denke an Punks und an lange Rockermähnen. Oder auch dicht behaarte Oberkörper. Haar, fast wie ein Fell, als Zeichen von Stärke, Wildheit, männlicher Kraft im Gegenpart zu wallender Verlockung und weiblicher Schönheit.
Die Essener Schau zeigt auch viele Bilder von People of Color – mit Braids, also eng geflochtenem Haar, und Afros, Bärten und geglättetem Haar. “Hairstylistinnen haben einen enormen Einfluss auf die Menschen, die in ihren Stühlen sitzen”, wird die US-amerikanische Popsängerin Beyonce im Ausstellungskatalog zitiert. “Sie erschaffen einen heiligen Raum, in dem wir uns zeigen können, wie wir wollen, und uns durch unser Haar ausdrücken können.”
Nur: Was ist es, was Menschen durch ihr Haar ausdrücken wollen? Manchmal vielleicht: Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft. Dem “Othering”, Fremd-Machen, entgegenwirken. Wer wie Beyonce bereits über 200 Millionen Tonträger verkauft hat, kann mit Identität spielen. Und auch hinter dem größten Erfolg kann ein Mensch stehen, der um keinen Preis anders aussehen will als die Ikone, die von den Fans geliebt wird.
“Schwarze Menschen, die in der Musikwelt erfolgreich sind, haben sehr oft geglättetes Haar”, sagt Dayan Kodua. Die Schauspielerin und Verlegerin stammt aus Ghana, ist in Kiel aufgewachsen und lebt heute in Hamburg. Seit einigen Jahren schreibt sie Kinderbücher über den Umgang mit Diskriminierung.
“Wenn meine Haare sprechen könnten” lautet ein Titel, und die kleine Protagonistin Akoma lernt darin, über ihr Haar Grenzen zu setzen und selbstbewusst zu sein. Während eines Schulausflugs auf einen Bauernhof fasst die Bäuerin dem Mädchen ungefragt in die Afrohaare, weil “sie ja so schön sind”. Akoma ist verstört, findet jedoch Hilfe und Rat bei ihrer Mutter und ihrer Lehrerin. “Es geht für die Kinder in der Geschichte zunächst einmal darum, nein sagen zu lernen”, erklärt Autorin Kodua.
Eine zusätzliche Botschaft, auch wenn sie nicht direkt benannt wird: Beschäme niemand wegen seiner Andersartigkeit. “Kinder erleben komische Sachen und können Rassismus noch nicht als solchen erkennen”, sagt Kodua.
Übergriffiges Anfassen der Haare ist für sie genau das: Rassismus. Kodua hat dies nach eigenen Worten nicht nur als Kind, sondern noch als erwachsene Frau erlebt: “Man wurde nicht gefragt – so als wäre man ein kleiner Pudel.” Verletzend sei die Entmündigung, die Menschen mit Afrohaaren dadurch erführen. “Wenn jemand mein Haar schön findet, darf er oder sie mir das immer sagen. Ich selbst gebe gern Komplimente, das ist entgegengebrachte Liebe”, betont sie.
Aber: “Jemand nur anzustarren oder einfach ins Haar zu fassen, das geht einfach nicht”, sagt die Autorin. Im Buch gibt es übrigens ein Happy End. Die Bäuerin entschuldigt sich, Akoma ist wieder stolz auf ihr Haar und weiß nun, wie sie Grenzen setzen kann. Kleine Leserinnen und Leser erfahren im Lexikonteil des Buches außerdem etwas über verschiedene Styles von Afrohaar. “Wir haben viele Mails zu diesem Buch bekommen, auch von weißen Müttern, die Kinder mit Afrohaar haben und die jetzt sehr viel selbstbewusster mit ihrem Haar umgehen”, berichtet Kodua.
Stolz und Mut auf und für das eigene Haar benötigen häufig auch Menschen, die ihr Haar verhüllen. Sehr viel wird in der westlichen Welt diskutiert über jene Haare, die in der Öffentlichkeit nicht zu sehen sind – weil ihre Trägerinnen ein Kopftuch anhaben.
Und schließlich können Haare ob ihrer Beschaffenheit viel darüber aussagen, wie es uns Menschen geht. Wer kennt ihn nicht, den “bad hair day”, der zum Haareraufen geeignet ist. Dutzende Sprichwörter zeugen von der bewussten und unbewussten Auseinandersetzung mit den toten Hornfäden – ob man sich nun mit anderen in die Haare kriegt, dabei zwar niemandem ein Haar krümmen will, sich aber dennoch so manche Haarspalterei leistet … Das Menschenleben bleibt eine haarige Angelegenheit.