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Wie eine blinde Bäckerin Plätzchen, Stollen und Kuchen macht

Sie sieht nur noch sehr wenig, steht aber jeden Tag in ihrer Küche – und backt oft mehr als sieben Bleche. Ihr Café in der Brandenburger Provinz ist für viele ein Sehnsuchtsort. Was macht es so besonders?

Doris Hollnagel hält eine Dose mit Zucker und Zimt in der Hand. Langsam streut sie den Inhalt über den flachen Hefeteig, auf dem mehrere Butterstücke verteilt sind. Ihre Hände bewegen sich gleichmäßig von links nach rechts. Jede Bewegung muss sitzen: Auf einer Seite ihrer roten Kittelschürze trägt die 70-Jährige ein Blindenzeichen.

“Einen kleinen Punkt sehe ich noch – du hast einen Bart und trägst ein schwarzes oder blaues Oberteil, richtig?”, fragt Hollnagel, die von ihrer Familie und einigen Kunden wegen ihres Nachnamens auch liebevoll Holly genannt wird. “Aber was meine Hände tun – das sehe ich nicht mehr.”

In Spreenhagen, wo Hollys Backstube steht, ist sie auch geboren. Das Dorf liegt etwa 60 Kilometer südöstlich von Berlin, in Brandenburg. 30 Weihnachtsstollen hat sie in diesem Jahr schon gebacken; heute stehen drei prall gefüllte Dosen unterschiedlicher Plätzchen auf dem Tresen. In Hochzeiten, im Sommer und am Wochenende, wenn viele Radfahrer kommen, sind es auch mal mehr als zehn Bleche Kuchen pro Tag. Viele in der Region kennen Holly, ihr Backwerk und ihre Geschichte.

“Als ich erblindet bin, fiel ich in ein ganz tiefes Loch”, erzählt Doris Hollnagel. Mehr als 20 Jahre ist das nun her. “Erst habe ich damit begonnen, Bilder zu malen. Dann habe ich mit dem Backen angefangen. Das kam irgendwann so gut an, dass ich vor 16 Jahren das Gartencafé eröffnet habe.” Für sie sei das Backen wie Medizin, sagt Holly: Sie habe zwei Herzinfarkte und Krebs gehabt. Deshalb will sie kürzertreten und öffnet nicht mehr die ganze Woche – stattdessen von donnerstags bis sonntags.

Sohn Christian tritt an den hellen Küchentresen. “Ist alles gut verteilt?”, fragt Holly, die vor dem bestreuten Hefeteig steht. Er nickt. Ja, alles in Ordnung. Der Kuchen kann gleich in den Backofen. Aber vorher muss sie das Ofenprogramm sorgsam einstellen: Das Stellrädchen kann sie nicht sehen.

Vor dem Ofen geht sie leicht in die Knie. Dann legt sie die rechte Hand auf die Ofenscheibe, tastet und findet das Rädchen: “Genau zweimal muss ich drehen.” Die elektronische Anzeige leuchtet aufNach einem ersten Klacken steht sie auf Ober-/Unterhitze; Holly dreht ein zweites Mal und die Buchstaben wechseln auf Umluft. “Alexa, Timer auf 30 Minuten”, sagt Holly.

Sie geht mit der Zeit, hat auch vegane Kuchen im Angebot, mit Walnüssen zum Beispiel. “Auch Menschen, die vegan essen, sollen etwas Gutes bei mir zum Kauen haben”, stellt sie klar. Damit keine Butter, also tierisches Fett, auf die veganen Kuchenstücke tropft, macht sie Butter- und Walnusskuchen getrennt voneinander.

Alles hat bei Holly seine Ordnung. Die kleinen Fläschchen mit Zitronenaroma sind fein sortiert, eine Schublade weiter steht in einem Glas das Backpulver, oben links die neue Küchenmaschine. Ihr Backuniversum ist etwa elf Quadratratmeter groß. “Wenn die Sachen nicht da sind, wo sie hingehören, werde ich kribbelig”, sagt sie.

In der DDR ließ sie sich zur Fleischereifachverkäuferin ausbilden und arbeitete zunächst in der DDR-Genossenschaft Konsum. Nach der Wende wechselte sie in einen privaten Fleischerbetrieb. “Nach 1990 wurde alles viel anstrengender”, erinnert sie sich. “Auf einmal musste ich Schweinekörper halbieren und diese mit viel körperlicher Anstrengung durch die Fleischerei tragen.” Mit 40 Jahren musste Holly diesen Beruf wegen der fortschreitenden Erblindung aufgeben. Etwas später fing sie mit dem Backen an.

Wo sie heute den Teig knetet, war früher ein Stall mit Schweinen und Hühnern. Die helle Einbauküche der Backstube hat sie vor einiger Zeit zusammen mit Sohn Christian für ihren Laden ausgesucht. Direkt daneben liegt das kleine Galeriecafé. Dort hängen Hollys selbstgemalte Landschaftsbilder und auch Zeitungsberichte über sie. In dem Gebäude gegenüber wohnen Sohn, Vater und Mutter zusammen. Der alte Hof gehört ihnen. “Wach bin ich seit sechs Uhr”, erzählt Holly. Eine Tomatenstulle habe sie gegessen, ihr Mann ein Honigbrot. Das hätte sie auch gerne gehabt – “geht aber nicht, wegen dem Zucker”, sagt sie. Süßes vertrage sie nicht mehr – leider.

Nach dem Frühstück ging es direkt an die Arbeit – Teig anrühren, Obst schnibbeln, kneten. Jetzt, nach vier Stunden, braucht sie eine Pause. Gerade als sie auf dem Stuhl sitzt und sich ausruht, öffnet sich die Ladentür: Der Dorfförster, ein Stammkunde, kommt herein. – “Ich mach Dir wieder zwei Stücke Butterkuchen und zwei vom gesenkten Apfelkuchen, ja?”, fragt sie und steht schnurstracks auf. – “Gerne”, sagt er und fängt an zu erzählen: von einer Fasanenfamilie, die ihm soeben begegnet ist. Mit seinen Beobachtungen bringt er ein Stück Natur ins Café.

Auch Holly würde gern einmal wieder so richtig rauskommen. Zuletzt ist sie mit ihrem Mann und ihrer Schwester verreist, in die Alpen. “Aber ich konnte die Berge gar nicht mehr sehen, und auf der Höhe fiel mir das Atmen richtig schwer”, erzählt sie ein wenig traurig.

Inzwischen ist es elf Uhr, und die alte Dame öffnet ihr Café. “Heute bin ich froh, wenn 30 Menschen kommen.” Draußen ist ein kalter Dezembertag, und es sind nur wenige Radfahrer am angrenzenden Spreeradweg unterwegs. Als einmal ein Zeitungsartikel über Holly erschienen war, war der Andrang so groß, dass sich Hartmannsdorf, das zu Spreenhagen gehört mit seinen rund 800 Einwohnern vor Autos kaum retten konnte.

Das letzte Blech verschwindet im Ofen; warmer Zimtduft breitet sich aus. Nach welchem Rezept sie die Kuchen backe? Holly wischt die mehligen Hände an der Schürze ab und erklärt: “Ich mach’ alles nach Schnauze.”