Wie ein Tagebuch durch schwierige Zeiten trägt

Wer als Erwachsener ein Tagebuch führt, gilt bisweilen als etwas wunderlich. Doch das Festhalten persönlicher Gedanken ist nicht nur etwas für Schriftsteller.

Wer Tagebuch schreibt, sortiert dabei seine Gedanken
Wer Tagebuch schreibt, sortiert dabei seine GedankenImago / Westend 61

Innehalten, durchatmen, Muße und den Raum für sinnstiftende Tätigkeiten finden – das wünschen sich viele Menschen. Im Alltag fällt es jedoch häufig schwer, dieses Ziel auch in die Tat umzusetzen. Olaf Georg Klein, evangelischer Theologe, Coach und Autor, rät zu einer alten Kulturtechnik: dem Tagebuchschreiben.

Dabei gehe es um die Frage, „wer man selbst ist und was man selbst denkt“, betont der Experte – fernab von Nachrichten-Tickern und Sozialen Medien. Und: „Auf lange Sicht bringt das Tagebuchschreiben mehr Zeit hervor als es kostet.“ Wer beispielsweise Konflikte im eigenen Umfeld reflektiere, könne damit anders umgehen, bestimmte Verhaltensmuster vermeiden und nach einem Kompromiss suchen. Dies spare Zeit und Energie.

„Eine gewisse Ordnung“

Kleins Anthologie „Tagebuchschreiben“ ist ein Plädoyer für das Verfassen eines Tagebuchs. Gerade in Krisenzeiten hätten Menschen dies getan, was auch berühmte Tagebücher wie jenes von Anne Frank zeigten. Das Schreiben helfe, „bei sich selbst anzukommen, über sich selbst nachzudenken“, erklärt der Experte: „Allein dadurch, dass ich Wort für Wort schreibe, Satz für Satz, Zeile für Zeile, entsteht eine gewisse Ordnung.“

Auch die Wahrnehmung von Zeit kann sich auf diese Weise verändern. „Ich muss in der Lage sein, zwischen dem hedonistischen Moment und den Gedanken über die Zukunft zu wechseln. Bin ich nur noch termin-, also zukunftsorientiert, verliere ich das Gefühl vom Leben“, sagte der Psychologe und Philosoph Marc Wittmann kürzlich der „Welt am Sonntag“. Dieser Ausgleich zwischen Gegenwarts- und Zukunftsperspektive sei für das eigene Glück „extrem wichtig“. Zudem mache das sogenannte episodische Gedächtnis, „der innere Film“, die „Story unseres Lebens“ aus.

Selbstliebe und Hochmut

Diese „Story“ verfassten Menschen, weil sie wissen wollten, wer sie seien, fügt Klein hinzu. Auch führe einem die bewusste Wahrnehmung der Gegenwart die Unbeständigkeit des Lebens vor Augen. „Nach und nach verabschiedet man sich von zwei Vorstellungen: von der Hoffnung, dass alles so bleibe, wie es ist – quasi als eine unendlich weiter fortgeschriebene Hoffnung, dass alles so bleibe, wie es ist – quasi als eine unendlich weiter fortgeschriebene Gegenwart. Und von der unbewussten Vorstellung, dass man, wenn man nur genug Aufwand betreibt, diese Unbeständigkeit der Dinge beeinflussen oder gar aufhalten könnte.“

Insbesondere letzteres ist ein durchaus christlicher Gedanke. Allerdings fürchteten in der Geschichte nicht nur Diktatoren die Dokumente der tatsächlichen Lebensrealität, die Tagebücher – statt Propaganda – häufig waren. Auch Kardinal Passionei befand 1753, dass Christen kein Tagebuch führen dürften, weil dies zu Selbstliebe und Hochmut führen könne.

Dieser Einschätzung widerspricht Klein: Das Tagebuch sei vielmehr ein „Gegenpol zu einer ständigen Selbstbespiegelung“. So biete es Raum, um über den eigenen Anteil an bestimmten Problemen zu reflektieren oder im Rückblick manchen Irrtum zu erkennen. Zudem könne man im Tagebuch „bestimmte Dinge, die einen wirklich bewegen, festhalten – und sie gerade dadurch loslassen. Dadurch ist man in der Begegnung oft präsenter.“

„So bin ich“

Auch kann etwas daraus erwachsen, „sich selbst richtig zuzuhören“, wie es die Philosophin Ariadne von Schirach in ihrem Buch „Glücksversuche“ formuliert. Wer Glücksmomente notiert, fühle sich möglicherweise schon bald „heller, wacher und froher“. Auch Hoffnungen lassen sich einem Tagebuch anvertrauen – von konkreten Zielen bis hin zu „unmäßigen Wünschen“ wie dem, fliegen zu können. Aus anderen Wünschen kann möglicherweise ein konkretes Engagement entstehen, zum Beispiel, wenn es um das Verlangen nach einer gerechteren Welt oder einer sauberen Natur geht.

Die Autorin erinnert an das „Kopfkissenbuch“ der japanischen Hofdame Sei Shonagon, das um das Jahr 1000 entstand. Inspiriert davon könnten Listen zur Selbstbeobachtung dienen: Selbst wenn es um banal erscheinende Fragen gehe wie die, was man selbst mag und was man nicht mag, könne es beglückend sein, diese Listen „zu schreiben, zu überarbeiten, zu verlängern und immer wieder zu studieren“, so von Schirach. „Denn Glück ist, neben vielem anderen, auch zu sagen: So bin ich, ich allein.“