Wie ein Blatt im Wind

Wäre es nach den Behörden gegangen, hätte Nour Alhouda mit ihrer Tochter Jolia Deutschland schon längst wieder verlassen müssen. Doch die beiden Syrerinnen haben in der Kirchengemeinde Geseke Zuflucht gefunden – im Kirchenasyl

Draußen vor dem Fenster wirbelt der Wind Blätter auf, treibt sie über den Rasen, um sie dann achtlos und willkürlich abzulegen. Kurze Zeit später fährt eine weitere Windböe in den Blätterhaufen und wiederholt das herbstliche Spiel. Wie Blätter im Wind haben sich auch Nour Alhouda (28 Jahre) und ihre Tochter Jolia (7 Jahre) in den letzten Jahren gefühlt. Ziellos, perspektivlos und oft auch hoffnungslos hat sie das Schicksal mal hierhin, dann wieder dorthin getrieben.
Erst im Kirchenasyl in der Evangelischen Kirchengemeinde in Geseke (Kreis Soest) sind die junge Mutter und ihre Tochter ein wenig zur Ruhe gekommen, haben wieder Zuversicht und Vertrauen gewonnen.

Zuerst ein kurzer Aufenthalt in Ägypten

Wer in die Augen der jungen Syrerin blickt, kann erahnen, welche Wunden die Flucht mit einer kleinen Tochter aus von einer von einem grausamen Bürgerkrieg geknechteten Heimat auf der Seele hinterlässt. Was eine solche Flucht mit Menschen macht, die alles mit nur einem Ziel hinter sich lassen: ÜBERLEBEN.
2012 sind Nour Alhouda und ihre damals zweijährige Tochter aus Syrien geflohen, erst einmal „nur“ bis nach Ägypten. Hier haben sie sich zumindest eine Zeitlang sicher gefühlt vor diesem Krieg, den keiner so recht erklären und erst recht nicht verstehen kann. Aber relativ schnell wurde klar, dass ein Leben in Ägypten nicht die Zukunft sein würde. Mitte 2014 haben sie ihre Flucht dann gemeinsam mit Verwandten fortgesetzt. Zunächst in die Türkei, dann Griechenland und über die Balkanroute nach Deutschland.
Deutschland – gelobtes Land. Land in Sicherheit und Frieden. Das Land mit dem Merkel-Mantra „Wir schaffen das“. Das Land mit den vielen Ehrenamtlichen, die alle die Arme ausbreiten: „Refugees welcome“.
Aber auch das Land mit Behörden, Verordnungen und Gesetzen, in dem ganz genau geprüft wird, ob wir denn das Bibelwort „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken“ (3. Mose 19,33 ff.) auch wirklich mit Leben füllen wollen. Ein kleiner Fehler bei einem der Interviews mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), ein simples Missverständnis, ein Übersetzungsfehler – und schon heißt es: zurück in das Land, wo in Europa die Erstaufnahme stattgefunden hat. Dublin-II-Verfahren nennt man das in der gemeinsam gefundenen europäischen Beamten-Sprachregelung. Die Übersetzung ist ebenso simpel wie oft menschenverachtend: „Hier ist kein Platz für dich!“
Im Fall von Nour und Jolia bedeutete das mit dem im April erstellten Bescheid: zurück nach Kroatien. „Das kam natürlich unter humanitären Gesichtspunkten überhaupt nicht in Frage“, erklärt die Geseker Pfarrerin Kristina Ziemssen, in deren Gemeinde sich zahlreiche Ehrenamtliche aufopferungsvoll um viele geflüchtete Menschen kümmern. „Das Kirchenasyl war daher für uns völlig alternativlos.“

Gemeinde war bestens für den Notfall vorbereitet

Schon frühzeitig hat man in Geseke dafür die Weichen gestellt. Bereits im Februar hat sich das Presbyterium intensiv mit dem Thema Kirchen­asyl beschäftigt. Ziemssen: „Damals gab es noch keinen konkreten Anlass, aber wir wollten für den Tag X vorbereitet sein.“ Als dann Ende April der Anruf aus dem Geseker Unterstützerkreis für Flüchtlinge kam und die Notlage der jungen Mutter geschildert wurde, hat es nur kurze Zeit bis zur Bewilligung des Kirchenasyls gedauert. „Wir waren“, erinnert sich die Pfarrerin, „ja bestens vorbereitet und mussten nicht mehr lange diskutieren, sondern nur noch den März-Beschluss des Presbyteriums umsetzen“.
Zum Beschluss gehörte dabei nicht nur ein grundsätzliches Ja zum Thema Kirchenasyl, sondern auch schon die konkrete Vorbereitung. Ziemssen: „Als erstes haben wir eine To-Do-Liste aufgestellt: Was müssen wir alles beachten, welche behördlichen Aufgaben erfüllen.“ Parallel dazu wurde nach einem Kreis von Helfern gesucht, die bereit waren, sich aktiv einzubringen und Mutter und Tochter während des mehrmonatigen Asyls zu unterstützen.
Auch das klappte ziemlich gut. „Wir hatten sechs Menschen, die sich intensiv kümmern wollten“, erklärt Kristina Ziemssen. Im Gemeindezentrum hatte man zudem die passenden Räumlichkeiten gefunden. Nur kurz hatte man überlegt, ob man vielleicht das Kreuz aus Respekt vor dem Glauben der bekennenden Muslima aus dem Raum, in dem sie wohnen würde, abhängen sollte: „Schnell war für uns aber klar, das Kreuz bleibt hängen. Wir machen das Kirchenasyl ja schließlich aus unserem Glauben heraus. Das musste Nour einfach aushalten“, schmunzelt Ziemssen rückblickend.
Um eine möglichst breite Akzeptanz zu erreichen, wurde die Gemeinde früh ins Boot geholt und informiert. Ziemssen: „Das hat sicherlich sehr geholfen. Wir wollten das ja nicht heimlich, still und leise machen, sondern auch gegenüber der Gemeinde ein deutliches Zeichen setzen: Seht her, hier sind Menschen in Not und es ist unser christlicher Auftrag, ihnen zu helfen – unabhängig von der Herkunft oder der Religionszugehörigkeit. Natürlich fordert das eine Gemeinde auch. Aber es gibt dem Flüchtlingsthema einen ganz anderen Stellenwert, wenn man ein Gesicht damit verbinden kann.“
Indirekte Unterstützung bekommen Kirchengemeinden wie die in Geseke dabei auch von Präses Annette Kurschus. Die hat bereits vor zwei Jahren, als Innenminister Thomas de Maiziére Kirchenasyl äußerst kritisch bewertet hat, klar formuliert, dass man sich hier nicht in einem rechtsfreien Raum bewege. Vielmehr sei ein Kirchenasyl die letzte Möglichkeit für eine Kirchengemeinde, nach sorgfältiger Prüfung einem Flüchtling beizustehen.
Diese sorgfältige Prüfung ist auch für Pfarrerin Kristina Ziemssen die Grundlage, ein Kirchenasyl in Erwägung zu ziehen: „Man muss sich jeden Fall einzeln anschauen; muss sehen, welche Geschichte dahintersteckt. Und dabei auch prüfen, welche Chancen auf Erfolg ein Kirchenasyl hat. Ich halte nichts davon, dass das ein Automatismus wird. Aber ich rate auch dazu, dass jede Kirchengemeinde sich unbedingt intensiv mit dem Thema auseinandersetzt.“

Dankbar für alle erfahrene Unterstützung in Geseke

Im Fall von Nour und Jolia Alhouda hat sich das Kirchenasyl ausgezahlt. Inzwischen hat sie die Erlaubnis bekommen, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Nach jetzigem Stand bedeutet das, dass sie erst einmal die kommenden drei Jahre hier bleiben darf. Immerhin so etwas wie eine Perspektive, wenn auch (zunächst) zeitlich begrenzt.
„Die letzten Jahre waren für mich und meine Tochter sehr sehr hart“, berichtet Nour, die in Syrien Ökonomie studiert hat. „Jetzt sind wir erst einmal froh und dankbar, dass wir hierbleiben dürfen. Ich weiß nicht, was aus uns geworden wäre und will mir das auch nicht vorstellen, wenn man uns hier in der Kirchengemeinde nicht so liebevoll geholfen hätte.“