Wie alte Schlager Demenz-Kranken helfen

Bei demenzkranken Menschen erlischt allmählich die Erinnerung. Doch die Hits ihrer Jugend sind oft noch gut im Gedächtnis verankert. Musiker aus Hannover lassen die Erinnerung aufleben.

 In Deutschland ist der Anteil der Bevölkerung ab 65 Jahren zwischen 1950 und 2021 von zehn Prozent auf 22 Prozent gestiegen
In Deutschland ist der Anteil der Bevölkerung ab 65 Jahren zwischen 1950 und 2021 von zehn Prozent auf 22 Prozent gestiegenepd / Nancy Heusel

Wunstorf. Frau S. ist heute wieder gut drauf. Nach ein paar Takten erhebt sie sich vom Stuhl, neben dem sie den Rollator geparkt hat, schnappt sich ihren Gehstock und tänzelt im Rhythmus der Musik der Terrasse entgegen. Denn dort swingt die Band vom Team „Klang und Leben“ gerade einen Hit von früher: „Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann.“ Ein alter Schlager von Trude Herr aus dem Jahr 1960. Sänger Oliver Perau hat ihn im diakonischen „Haus am Bürgerpark“ in Wunstorf bei Hannover angestimmt, begleitet von Pianist und Schlagzeuger.

Perau (52) gründete 1988 die Rock-Band „Terry Hoax“, unter dem Namen Juliano Rossi ist er als Jazz-Sänger unterwegs. Doch seit zehn Jahren singt er auch auf Bühnen abseits des Rampenlichts: in Alten- und Pflegeheimen. „Wir wollen den Einrichtungen zeigen, dass man mit Musik unglaublich viele erreichen kann – auch Menschen, die dement sind“, sagt er. Im „Haus am Bürgerpark“ haben sich an diesem Tag etwa 50 alte Menschen zum Konzert versammelt. Fast alle sind über 80. Rund die Hälfte ist mit dem Rollstuhl gekommen.

Tief im emotionalen Gedächtnis

Dass die Musiker gezielt für ältere Menschen spielen, hat einen wissenschaftlichen Hintergrund. Forschende der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover haben vor einigen Jahren herausgefunden, dass musikalische Erlebnisse aus der Jugend sehr tief in den Zentren des emotionalen Gedächtnisses abgespeichert sind. „Und die sind erfreulicherweise durch die Abbauprozesse bei Demenz nicht so stark betroffen“, erläutert der Musik-Mediziner Eckart Altenmüller.

Manche der bundesweit rund 1,8 Millionen Demenz-Patienten hätten zwar die Namen ihrer Kinder vergessen: „Aber an die Melodien erinnern sie sich wieder.“ Wer Demenzkranke pflege, solle deshalb mit ihnen singen oder Musik hören, rät der Professor. So würden die Erinnerungen wieder lebendig.


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Darauf setzen auch Oliver Perau, Schlagzeuger Karsten Kniep und Keyboarder Andreas Meyer. Im „Haus am Bürgerpark“ packen sie einen alten Schlager nach dem anderen aus. Etwas nostalgisch „Die kleine Kneipe in unserer Straße“ von Peter Alexander, etwas rockig „Aber bitte mit Sahne“ von Udo Jürgens. Und mit Jazz-Feeling „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“ von Bill Ramsey. Auch „Lili Marleen“ von Lale Andersen aus dem Jahr 1939 ist natürlich dabei.

Sänger Oliver gibt alles: Er tanzt mit dem Mikrofon zwischen Tischen und Stühlen hin und her, setzt sich in einen leeren Rollstuhl, beugt sich hinüber zu einer Heimbewohnerin und singt ihr ein Lied zu.

Ein Tanz mit einer 105-Jährigen

Und er macht seine Späße. „Ich hab mal mit einer 104-Jährigen getanzt“, erzählt er im Stile eines Entertainers. „Und ein Jahr später sogar mit einer 105-Jährigen.“ Er wartet kurz, bis der Groschen fällt. Dann die Pointe: „Es war dieselbe Frau, sie war einfach nur älter geworden.“ Gelächter im Publikum. Aber die Story ist wahr. Die alte Dame starb schließlich mit 109 Jahren.

Nur ein Teil der Bewohner im „Haus am Bürgerpark“ leidet unter Demenz, ihren Spaß haben alle. Viele Füße wippen mit. Eine Frau mit weißer Haarpracht ballt die Hände zu Fäusten und schwingt sie im Takt. „Wunderbar, der ganze Nachmittag“, sagt die 99-jährige Maria Wahner. Rosa-Marie Knauthe fühlt sich an früher erinnert: „Mein Mann und ich waren auch Tänzer.“ Und Siegfried Miethe und sein Sitznachbar sind ebenfalls begeistert: „Wo wir den Text nicht kannten, haben wir einfach mitgesummt.“

Bei den Bewohnerinnen herrscht während des Auftritts gute Laune
Bei den Bewohnerinnen herrscht während des Auftritts gute LauneNancy Heusel / epd

Knapp 700 dieser Konzerte haben Oliver Perau und seine Band bisher schon gegeben – jedes Jahr 60 oder 70 Auftritte, seit der Verein „Klang und Leben“ vor zehn Jahren gegründet wurde. Spenden und Sponsoren sowie Mitgliederbeiträge tragen dazu bei, dass die Musiker ein Honorar erhalten. Manchmal steuern auch die Heime etwas zu. Große Gagen wie bei glamourösen Rockkonzerten sind das nicht. Doch als die Pandemie begann, zeigte sich, wie wertvoll das Projekt auch für die Musiker ist.

Glücklicher nach dem Auftritt

„Als im April 2020 nichts mehr ging, sind wir trotzdem weitergefahren mit unserem Bus“, erzählt Perau. „Da haben wir eben nicht mehr in den Heimen gespielt, sondern davor.“ Die Senioren und Seniorinnen lauschten dabei am Fenster und vom Balkon. „Das war für uns die totale Rettung.“ Inzwischen hat die Band von „Klang und Leben“ allein während der Pandemie schon mehr als 150 Konzerte gespielt, in Niedersachsen und bundesweit. Und nicht nur die alten Leute sind tief berührt – das Erlebnis wirkt auch auf die Musiker zurück: „Ich fahre in der Regel glücklicher nach Hause, als ich gekommen bin“, sagt Perau.

Auf der Terrasse beginnen inzwischen die Zugaben – mit symbolträchtigen Texten. Perau singt den großen Hit von Freddy Quinn: „Junge, komm bald wieder“. Und dann, auf Wunsch von Pflegekoordinatorin Katrin Bauer (54): „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ von Hans Albers. Alle fassen sich an den Händen, schunkeln, singen mit. „Es bewegen sich Bewohner, die sich sonst nicht so wirklich bewegen“, sagt Bauer. „Das sind einfach die schönen Momente in unserem Beruf.“ (epd)