„Widerstehen, wenn offenbares Unrecht geschieht“

Altbischof Karl Ludwig Kohlwage (87) verbindet mit den Lübecker Märtyrern weit mehr als die Lutherkirche. Im Interview spricht er über deren Rehabilitierung und ihre Vorbildfunktion heute zum gemeinsamen Abendmahl.

Karl Ludwig Kohlwage war von 1991 bis 2001 Bischof in Lübeck
Karl Ludwig Kohlwage war von 1991 bis 2001 Bischof in LübeckMaro Heinen

Jedes Jahr wird in Lübeck ein Gedenkgottesdienst für die Lübecker Märtyrer gefeiert. In diesem Jahr hält Altbischof Karl Ludwig Kohlwage am Sonntag, 8. November, die Predigt. Die Märtyrer – drei katholische Priester und ein evangelischer Pastor – kritisierten die Nationalsozialisten öffentlich und wurden dafür hingerichtet.

Herr Bischof Kohlwage, Sie haben in der Lutherkirche ihr Vikariat, ihr erstes Jahr im Kirchendienst verbracht. Es ist die Wirkungsstätte Karl Friedrich Stellbrinks. Was verbindet Sie persönlich mit Stellbrink und dieser Kirche?
Als ich dort meinen Dienst antrat, wusste ich nur wenig über die Lübecker Märtyrer. Es war kein Thema im evangelischen Lübeck. Zwar war die Urne Stellbrinks schon beigesetzt in der Vorhalle, aber im gemeindlichen Leben spielte er keine Rolle. In der katholischen Kirche war das gänzlich anders. Da wurde jedes Jahr das Märtyrergedenken gefeiert – immer unter Berücksichtigung von Stellbrink.

Wann wurden Sie aufmerksam?
Ich habe mich sehr viel später auf Spurensuche begeben. Ich habe die Kirchenvorstandsprotokolle von zehn Jahren durchgelesen, von 1945 bis 1955. Der Name Stellbrink kommt da praktisch nicht vor.

Wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbeguenstigung und Rundfunkverbrechen wurden vier Luebecker Geistliche, drei katholische Kaplaene und ein evangelischer Pastor (Kaplan Hermann Lange, Kaplan Johannes Prassek, Kaplan Eduard (Mueller) Müller und Pastor Karl Friedrich Stellbrink (Foto, der Lutherkragen des Pastors ist nachtraeglich in das Bild retuschiert worden)), heute bekannt als die „Luebecker Maertyrer“ am 10.11.1943 in der Hamburger Haftanstalt am Holstenglacis hingerichtet. Sie waren die einzigen Geistlichen, die durch ein Urteil des Volksgerichtshofs waehrend der NS-Zeit starben. Innerhalb von neun Minuten wurden die vier auf dem Schafott enthauptet. (Siehe epd-Feature vom 29.10.2018)  *** Local Caption *** 00227152
Wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbeguenstigung und Rundfunkverbrechen wurden vier Luebecker Geistliche, drei katholische Kaplaene und ein evangelischer Pastor (Kaplan Hermann Lange, Kaplan Johannes Prassek, Kaplan Eduard (Mueller) Müller und Pastor Karl Friedrich Stellbrink (Foto, der Lutherkragen des Pastors ist nachtraeglich in das Bild retuschiert worden)), heute bekannt als die „Luebecker Maertyrer“ am 10.11.1943 in der Hamburger Haftanstalt am Holstenglacis hingerichtet. Sie waren die einzigen Geistlichen, die durch ein Urteil des Volksgerichtshofs waehrend der NS-Zeit starben. Innerhalb von neun Minuten wurden die vier auf dem Schafott enthauptet. (Siehe epd-Feature vom 29.10.2018) *** Local Caption *** 00227152© epd-bild / KNA-Bild

Sie haben die Rehabilitierung Stellbrinks als Bischof auf den Weg gebracht, doch die erste Initiative lag bei ihrem Vorgänger im Amt, Bischof Heinrich Meyer.
Ja, Bischof Meyer hat sich zuerst für Stellbrinks Rehabilitierung eingesetzt. 1961 war das Buch „Der Lübecker Christenprozess“ von Else Pelke herausgekommen. Das war ein mächtiger Schub, sich mit diesem Thema zu befassen. Ich selbst war dann 30 Jahre nicht in Lübeck, sondern in Flensburg und Stormarn. Doch als 1993 der 50. Jahrestag der Ermordung der Lübecker Märtyrer anstand, war mir klar: Als Nordelbische Kirche müssen wir etwas dazu sagen, zumal die Lübecker Kirche, die bis 1977 bestand, nie eine offizielle Stellungnahme zu Stellbrink abgegeben hatte.

Was ist aus Ihrer Sicht die zentrale Botschaft, die sich mit dem Wirken der Lübecker Märtyrer verbindet?
Die zentrale Botschaft ist: Widerstehen, wenn ein offenbares Unrecht geschieht, etwa ein Verbrechen von Staats wegen. Da muss die Stimme der Kirche laut werden.

Was ist mit dem ökumenischen Zeugnis der vier?
Ich fasse es unter die Frage: Was sind wir ihnen heute schuldig?! Stephan Pfürtner, einer der mitverhafteten Laien, schrieb in einem Aufsatz einmal von „versöhnter Verschiedenheit“. Gemeint ist damit unter anderem, was wir heute als „eucharistische Gastfreundschaft“ benennen. Ich glaube, es ist entscheidend, ob die Lübecker Märtyrer eine Vorbildfunktion haben auch für den Umgang mit den konfessionellen Unterschieden. Sie haben das Gemeinsame entdeckt und praktiziert – werden wir ihnen in dieser Praxis nachfolgen oder nicht?!

Wie werden wir Ihnen heute gerecht? Indem wir ihre Geschichte immer wieder erzählen, damit sie nicht verloren geht. Sie ist das Narrativ, wie man neumodisch sagt. Es ist eine Geschichte, ohne die eine Institution, eine Kirche oder eine Gemeinde zumindest in Lübeck nicht mehr denkbar ist.

Aber es gibt immer wieder Konflikte, etwa die Frage von Eucharistie und Abendmahl.
Die vier haben das gemeinsam praktiziert. Und was machen wir? Gibt es Formen des Zusammengehens, etwa der eucharistischen Gastfreundschaft? Wir haben als evangelische Christen keine Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten liegen auf anderer Seite.

Aber diese Schwierigkeiten sind ja theologisch begründet.
Ja. Aber wir Protestanten sagen auch, Christus ist gegenwärtig in Brot und Wein. Das ist mein Leib, das ist mein Blut. Das ist lutherische Lehre. Ohne Transsubstantiation, aber in und mit dem Brot und Wein ist Christus präsent. Es lädt ja nicht ein Priester ein zum Abendmahl, sondern er selbst lädt an seinen Tisch ein. Es ist sein Ruf, nicht unserer: Kommet her zu mir!

Kann Ökumene bei so vielen Unterschieden langfristig funktionieren?
Wenn die Prognosen Recht behalten, dann sind wir auf einem Weg, weniger zu werden und die Systemrelevanz des christlichen Glaubens in Frage gestellt wird. Das ist eine Herausforderung, auf die wir gemeinsam reagieren müssen als Kirche. Wir können uns die doppelsträngige Existenz nicht mehr leisten, finde ich.

WAS: Gedenkgottesdienst für die Lübecker Märtyrer
WANN: am Sonntag, 8. November, um 11 Uhr
WO: in der Lübecker Lutherkirche, Moislinger Allee 96
Um telefonische Anmeldung unter 0451/203 47 98 wird gebeten.