“Werther” und sein Dichter sind noch immer relevant

Es gibt Städte wie Weimar, Leipzig oder Frankfurt, in denen Goethe lebte und die mit dem wohl bedeutendsten deutschen Dichter werben – und es gibt Städte, die sich aus dem gegenteiligen Etikett einen Spaß machen und sogar dafür werben, dass Goethe nicht dort gewesen ist. Und Nürnberg? „Vier Mal war er sicher hier, wenngleich auch nur auf der Durchreise“, sagt Claudia Leuser, Vorsitzende der Nürnberger Goethe-Gesellschaft. Die frühere Seminarlehrerin für katholische Religionslehre ist seit Kurzem im Ruhestand und hat nun mehr Zeit für die 1995 gegründete Gesellschaft von literarisch Interessierten.

Leuser investiert viel Zeit in die Organisation des Jahresprogramms der Goethe-Gesellschaft. Unterstützt wird sie dabei unter anderem vom stellvertretenden Vorsitzenden Günther Kraus. Gut ein Dutzend Veranstaltungen stehen auf der Liste. Die Vorträge finden in der Regel im Caritas-Pirckheimer-Haus oder dem evangelischen Haus der Kirche „eckstein“ statt. In diesem Jahr beispielsweise zur Beziehung zwischen Napoleon und Goethe oder über seine Märchen als Reaktion auf die Französische Revolution. Auch andere Literaten wie Wieland und Klopstock, Zeitgenossen Goethes, oder Franz Kafka werden von der Gesellschaft behandelt.

„Wir legen bewusst immer neue Handlungsstränge rund um Goethe. Mal geht’s um seine Frauen, mal um andere Blicke auf den ‘Faust’ und dann gerne um andere Autorinnen und Autoren, auf die er sich bezog oder umgekehrt.“ In einer solchen Gemeinschaft dürfe aber auch das Gesellige nicht zu kurz kommen, sagt Leuser und verweist etwa auf Exkursionen nach Lübeck, wo man sich einmal zur gemeinsamen Mahlzeit wie in den „Buddenbrooks“ traf. Daher steht im Oktober auch eine mehrtägige Fahrt nach Wetzlar an, wo „Die Leiden des jungen Werther“ spielt – der Roman, der Goethe kurz nach Erscheinen schlagartig bekannt gemacht hat.

Der Namensgeber des Werks verliebt sich in der Geschichte in eine bereits verlobte Frau namens Lotte. Weil sie nicht zusammen sein können, wird der junge Rechtspraktikant immer hoffnungsloser und nimmt sich am Ende das Leben. Ein Plot, der von einer realen Begebenheit rund um Goethes Freund Carl Wilhelm Jerusalem inspiriert ist, der eine verheiratete Frau liebte und sich aus Verzweiflung ob der Unerreichbarkeit das Leben nahm. Die Wirkung des Romans war monströs: Denn neben dem Bekanntheitsschub für Goethe löste er eine Welle von Suiziden aus. Der sogenannte Werther-Effekt wird bis heute kontrovers diskutiert.

Für Leuser ist „Werther“ aber über das zentrale Suizid-Motiv hinaus ein damals wie heute gesellschaftlich relevantes Buch. „Werther zerbricht an der inneren Spannung, anderen zu gefallen, gleichsam aber er selbst zu sein. In Zeiten, in denen junge Menschen über TikTok und Instagram versuchen, zu ihrer Individualität zu finden, ein hochaktuelles Thema“, findet sie. Ebenso wie die in der Zeit der Aufklärung schon heißt diskutierte Frage: „Was macht den Menschen zum Menschen?“ Goethes Roman sei damals „das Zündkraut“ gewesen, „das eine Explosion auslöste – literarisch wie in der öffentlichen Wahrnehmung“, erläutert Leuser.

Die mittelhessische Stadt Wetzlar jedenfalls hat zahlreiche Veranstaltungen anlässlich des Jubiläums wie eine Neuinterpretation des „Werther“ in Comic, Graphic Novel oder Manga, eine Ausstellung, einen True-Crime-Audio-Walk und eine Stadtführung mit Lotte, Goethe oder einem Geisterbeschwörer auf dem Plan. Claudia Leuser rechnet mit rund 30 Teilnehmern der „Werther“-Reise – der „harte Kern“, der sich immer wieder die Zeit nimmt. Und hofft darauf, dass ihre Gesellschaft wieder mehr neue Mitglieder erreicht – „gerne auch schon vor der Rente“. (00/2761/16.09.2024)