Wer zuerst?
Über das Impfen wird derzeit viel diskutiert. Deutschland impft zuerst in Pflegeheimen und hochaltrige Menschen, aber jüngere Menschen mit Beeinträchtigungen müssen genauso warten wie Pfarrer*innen, die viel Kontakt haben mit älteren Menschen. Andere Länder haben andere Strategien. Ist die Impfstrategie in Deutschland richtig?
Von Andreas Lob-Hüdepohl
Wenn der Staat die knappen Impfstoffe priorisiert, dann will er das Windhund- und Ellenbogenprinzip ausschalten. Nicht die Schnellsten, die Rücksichtslosesten oder die Finanzstärksten kommen als erste an den wichtigen Gesundheitsschutz. Sondern diejenigen, die aus guten und gerechten Gründen bevorzugt werden sollten. Gute Gründe hängen davon ab, was man mit der Impfstrategie eigentlich erreichen will. Dazu hat der Deutsche Ethikrat mit anderen Wissenschaftseinrichtungen Vorschläge gemacht: Oberstes Impfziel ist die Verhinderung schwerer oder gar tödlicher Covid-19-Krankheitsverläufe. Dazu müssen als erste die Personen geimpft werden, die das höchste Risiko solch schwerer und sogar tödlicher Krankheitsverläufe besitzen. Dieses Risiko wächst extrem mit dem Alter oder auch mit bestimmten Vorerkrankungen und anderen Vorbelastungen. Über 85 Prozent der Covid-19-Toten sind älter als 80 Jahre. Und weil das Ansteckungs- und damit Erkrankungsrisiko in den Gemeinschaftseinrichtungen der Altenpflege nochmals steigt, stehen deren Bewohner*innen ganz oben auf der Liste. Zu Recht!
Dann folgen die Personengruppen, die auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit trotz strenger Hygienemaßnahmen einem besonderen Ansteckungs- und Weiterverbreitungsrisiko ausgesetzt sind: deshalb die Pfleger*innen, die Ärzt*innen. Danach die Mitarbeiter*-innen des Sozial- und Bildungswesens. Und natürlich jene, die an Schlüsselstellen der Gesellschaft arbeiten und selbst bei milden Krankheitsverläufen nicht einfach ersetzt werden können: Polizist*innen, Mitarbeitende im öffentlichen Gesundheitsdienst oder in der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs.
Die eingeschlagene Impfstrategie folgt dem Grundsatz der höheren Dringlichkeit bei der Abwehr schwerster und tödlicher Erkrankung. Kein Kriterium bildet die schnellere Breitenwirkung von Impfungen. Das überrascht, ja irritiert viele. Sollten nicht die zuerst geimpft werden, die schnell erreicht werden können, bei denen die Immunantwort durch die Impfung sehr stark ist oder deren Leistungsfähigkeit das Gemeinwohl oder die Wirtschaft am meisten sichert, fördert oder erst wiederherstellt? Aber dies führte unweigerlich dazu, dass Jüngere (deren Immunantwort ist im Schnitt stärker und sie leben durchschnittlich länger) oder Fittere (deren Leistungsfähigkeit ist dadurch noch besser geschützt) bevorzugt werden müssten, während die in dieser Hinsicht „weniger nützlichen“ Alten und Vorbelasteten länger schwer erkranken und versterben.
Natürlich dürfen Nützlichkeitserwägungen bei Impfstrategien eine Rolle spielen. Welche Verteilungssysteme oder Impfzentren sind möglichst effizient? Welche Impfstoffe sind für welche Personengruppen besonders effektiv? Aber sie müssen daran gemessen werden, was im Letzten für eine humane Gesellschaft zählt. Und als Letztes zählt nicht der erreichte soziale, kulturelle oder wirtschaftliche Wohlstand. Auch wenn ich weiß, dass davon sehr viele Menschen bis in ihre Existenz betroffen sind. Für sie bedeutet ihr unterbrochener Schulbesuch, ihr unterbundenes Kulturschaffen, ihr geschlossener Gastronomiebetrieb eine schwere Schädigung ihrer Lebenslage. Deshalb müssen sie bevorzugt ideell wie materiell unterstützt werden. Aber die Humanität einer Gesellschaft, die auch von der Idee des Christlichen zehrt, steht und fällt im Umgang mit den Schwächsten. Und zwar mit jedem Einzelnen von ihnen. Deshalb Pflegebedürftige, Ältere und Vorbelastete zuerst. Das ist gut so und soll auch so bleiben.
Andreas Lob-Hüdepohl ist Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Er ist Mitglied im Deutschen Ethikrat.