Wenn Schenken zur Sucht wird

Nach der Arbeit hatte Vera Dankert nur ein Ziel: ihr Tablet starten und online fremden Menschen Geschenke machen. Porträt einer ungewöhnlichen Sucht, die der Krankenschwester 80.000 Euro gekostet hat.

Über das Internet verschenkte Vera Dankert viel Geld an Fremde
Über das Internet verschenkte Vera Dankert viel Geld an FremdeImago / Blickwinkel

Mit kleinen Geldbeträgen fing es an. Jeden Tag saß Vera Dankert (Name geändert) in ihrer Wohnung vor dem Handy oder Tablet und machte fremden Menschen Geschenke in immer größerem Umfang. Als das Gehalt nicht mehr reichte, nahm die 58-Jährige  Kredite auf und belog ihre Eltern. Sie wurde immer mehr abhängig von der Wertschätzung, die ihr entgegengebracht wurde und entwickelte damit eine ungewöhnliche Sucht: „Ich wurde gefeiert, weil ich Geld gegeben habe.“ Dankert verschenkte rund 80.000 Euro.

Zu Beginn der Corona-Pandemie meldete sich Dankert das erste Mal bei einer Plattform an, wo sie Kontakt fand. Diese ihr unbekannte Menschen unterhalten dabei ein Online-Publikum mit Live-Videos. Die sich einsam fühlende Frau merkte schnell: Wenn sie den Teilnehmern der Videos Geldgeschenke machte, schenkten die ihr wiederum mehr Aufmerksamkeit: „Ich wurde vor allen Teilnehmern im Stream mit Namen begrüßt, die kannten mich. Das war schon ein tolles Gefühl.“

Rentenversicherung gekündigt

Um auch weiterhin auf der Plattform beliebt zu bleiben, kündigte die Krankenschwester ihre Renten- und Lebensversicherung. Ihren Eltern erzählte sie, ihre EC-Karte funktioniere nicht, und erschlich sich so über mehrere Wochen 14.000 Euro. „Mir war alles egal, der Haushalt, die Körperhygiene, ich habe alles komplett vernachlässigt.“ Als Dankert am Ende des Monats kein Geld mehr hatte, um sich etwas zu Essen zu kaufen, flog ihre geheime Sucht auf. Ihre Schwester vermittelte ihr schließlich einen Therapie-Platz in der Lukas-Werk Fachambulanz in Helmstedt.

Für Suchttherapeutin Katrin Vosshage war ein solcher Fall neu. Die „Schenksucht“ sei keine offizielle Diagnose, sagt die Therapeutin bei einem gemeinsamen Treffen im Gruppenraum. An der Tafel an der Wand sind die „Abhängigkeitskriterien“ wie „Kontrollverlust“ und „Interessenverlust“ aufgelistet. Die offizielle Diagnose lautet schließlich „exzessive Mediennutzung“. Dankert sei zwar ein Einzelfall gewesen, dennoch sei es in der Gruppentherapie gut gelungen, die Parallelen der verschiedenen Suchterkrankungen herauszuarbeiten, betont Vosshage.

Auch die stellvertretende Bundesvorsitzende der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung, Christina Jochim, verortet den Begriff der Schenksucht eher als einen Alltagsbegriff. Es handle sich um eine Abhängigkeit, die im Rahmen einer anderen psychischen Erkrankung auftrete. „Das Schenken ist eine besondere Art der Kommunikation, die in allen Kulturen vorhanden ist und immer eine gewisse Botschaft der Wertschätzung hat“, sagt die Berliner Psychologin. Es sei soziologisch wirksam, wenn es passend zur Situation oder zur Beziehung sei und gerate in eine Schieflage, wenn Geschenke übermäßig oder beschämend seien.

Heute hat sie einen Leitspruch

Schon immer habe sie gern auch großzügige Geschenke gemacht, erzählt Dankert. Allerdings habe sie diese Gaben bis dahin auch immer bezahlen können. Nur knapp ist sie um eine Privatinsolvenz herumgekommen und zahlt nun ihre Schulden ab. Warum sie in diese Sucht rutschte, weiß sie bis heute nicht. „Ich hatte eine glückliche und zufriedene Kindheit und war auch auf der Arbeit anerkannt.“ Damals habe sie vor allem Langeweile gehabt.

Das Datum ihrer letzten Therapie vor ein paar Monaten weiß Dankert noch genau, erzählt sie. Ein Jahr lang ist die Frau mit den schulterlangen Haaren wöchentlich in die diakonische Einrichtung gekommen. Inzwischen hat sie die App mit der Streaming-Plattform auf ihren Geräten gelöscht. Sie finde inzwischen wieder Zeit für Freunde und Familie oder um auch einfach mal ein Buch zu lesen oder spazieren zu gehen, sagt sie.

Vera Dankert (mit dem Rücken zur Kamera) fand Hilfe bei der  Sucht-Therapeutin Katrin Vosshage
Vera Dankert (mit dem Rücken zur Kamera) fand Hilfe bei der Sucht-Therapeutin Katrin Vosshageepd-bild / Charlotte Morgenthal

Als sie damals Stunde um Stunde vor ihrem Tablet saß und wieder Geld überwiesen hatte, hielt das Glücksgefühl oft nur bis zum nächsten Tag an. Ihr Selbstbewusstsein sei damals eher schlecht gewesen, sagt Dankert etwas leiser. „Jetzt stehe ich mit dem Leitspruch morgens auf, dass ich mehr als ok bin.“