Wenn mit Gottvertrauen ein Dorf im Moor entsteht

Es war vor genau zweihundert Jahren mitten im Winter: Die kalte Jahreszeit hielt die ersten pietistischen Siedler nicht davon ab, bereits im Januar 1824 damit anzufangen, das Moor trockenzulegen und erste Bretterhütten zu bauen. Damit war die pietistische Siedlung „Wilhelmsdorf“ (Landkreis Ravensburg) geboren. Am Sonntag wurde der runde Geburtstag gefeiert.

Wilhelmsdorf ist – wie der Name verrät – eine Schenkung des württembergischen Königs Wilhelm I., der pietistischen Siedlern sumpfiges Moorland gab, das sie urbar machen durften und wo diese ihren Glauben nach „eigenen Regeln“ leben konnten. Damit wollte der König wie zuerst in Korntal bei Stuttgart die weitere Abwanderung von Protestanten aus Württemberg verhindern, die wegen einer neuen, von der Aufklärung geprägten Gottesdienstordnung in Gewissensnöte kamen und deshalb in großen Zahlen vor allem nach Russland auswanderten. Hinzu kamen die Hungerjahre 1816/1817, die ebenfalls viele dazu brachten, das Land zu verlassen.

Doch die Arbeit im sumpfigen Gelände gestaltete sich schwierig: „Es ist wahr, bittre Armut war in Wilhelmsdorf. Aber die Armut wurde – man darf es wohl sagen – von allen mit gottvertrauender Geduld, mit heldenhaftem Mut und mit glaubensvollem Blick in die Zukunft getragen“, heißt es in der Geschichte der Gemeinde Wilhelmsdorf mit dem Titel „Durch tiefe Wasser“ von Wilhelm Friedrich Thumm aus dem Jahr 1875.

Der Notar Gottlieb Wilhelm Hoffmann (1777-1846) war der Pionier, der Korntal gründete und auch den Vertrag mit dem König über die Trockenlegung des Lengenweiler Moosrieds bei Pfrungen unterzeichnete, um dort eine Tochtersiedlung von Korntal zu gründen. Es traf ihn hart, als in seinem Todesjahr 1846 Wilhelmsdorf vor dem finanziellen Ruin stand. Noch auf dem Sterbebett soll ihn sein Wilhelmsdorf umgetrieben haben. Nur durch Spenden anderer Pietisten und einer Neuorganisation Wilhelmsdorfs war es nach dem Tode Hoffmanns möglich, den finanziellen Ruin der Siedlung abzuwenden.

Dass soziales Engagement bereits den Gründungsvätern von Wilhelmsdorf wichtig war, zeigt sich unter anderem darin, das Hoffmann schon 1830 eine „Rettungsanstalt für arme und verwahrloste Kinder“, das heutige Hoffmannhaus, in Wilhelmsdorf gründete. 1835 folgte die Aufnahme von Mädchen, 1837 gründete der Pädagoge August Friedrich Oßwald eine „Taubstummenanstalt“.

Heute ist Wilhelmsdorf überregional bekannt für seine vielen sozialen Einrichtungen, wie die „Zieglerschen“, einem Sozialunternehmen mit über 3.400 Mitarbeitern an rund 60 Standorten, oder die Jugendhilfe Hoffmannhaus. „Von Anfang an war die Diakonie die DNA von Wilhelmsdorf“, sagt der Pfarrer der Evangelischen Brüdergemeinde in Wilhelmsdorf, Norbert Graf. „Die Integration, Unterstützung und Inklusion von Menschen mit Förderbedarf war ein Herzensanliegen der Gründungsväter und ist es heute noch.“

Dass Wilhelmsdorf ein besonderer Ort ist, wird jedem Besucher auch heute noch direkt klar, wenn er sich dem Betsaal, der Wilhelmsdorfer Kirche, nähert: Die vier Hauptstraßen bilden ein Kreuz. Im Zentrum, befindet sich der Betsaal, um ihn herum ein großer Kreisverkehr – ein Hinweis auf den christlichen Bauplan der Siedlung. „Egal aus welcher Richtung man nach Wilhelmsdorf hineinfährt, man fährt immer um den Betsaal“, sagt Pfarrer Norbert Graf.

Auch im Gottesdienst gehören laut Graf Menschen mit Behinderung und Förderbedarf selbstverständlich zum Gemeindeleben dazu, Teile des Gottesdienstes werden in Gebärdensprache übersetzt und das Vaterunser immer in Gebärden gebetet. „Die vielen Menschen mit Förderbedarf sind ein Geschenk, denn sie machen jeden Tag deutlich, wie wertvoll Leben ist und wie besonders jeder Mensch. Hier darf man einfach sein, wie man ist“, so der Pfarrer. Noch immer gelte deshalb das alte Motto der Wilhelmsdorfer Gründungsväter: „Nah bei Gott und nah bei den Menschen einen Glauben leben, der Menschen stärkt und guttut.“

Mit einem Festgottesdienst mit dem württembergischen Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl und einem anschließenden Festakt unter anderem mit Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) hat die Gemeinde Wilhelmsdorf am Sonntag ihr 200-jähriges Bestehen gefeiert – der Start zu einem großen Jubiläumsjahr. (0037/07.01.2024)