Wenn Knochen Geschichten erzählen
Was 300 Jahre alte Knochen über ihre früheren Besitzer verraten und was sich in Grüften außer Särgen noch so findet – davor erzählt der “Gruftretter” Andreas Ströbl im Interview.
Regina und Andreas Ströbl, beide promovierte Archäologen und Kunsthistoriker, betreiben die Forschungsstelle Gruft in Lübeck. Das Ehepaar dokumentiert und rettet Grablegen der vergangenen Jahrhunderte im ganzen Bundesgebiet. Dabei arbeiten sie mit anderen Wissenschaftlern und vor allem mit Restauratoren zusammen. 2024 stand die Wiederherstellung der Grablege aus der Gruft in Ludwigsburg bei Greifswald auf ihrem Tourprogramm. Andreas Ströbl berichtet.
Herr Ströbl, hier liegen jetzt sieben Kisten mit Knochen, die sehr zusammengesammelt und durcheinander aussehen. Was sind das für Knochen und woher stammen sie?
Sie lagen bis vor einigen Monaten in der Gruft unter der Schlosskapelle in Ludwigsburg bei Greifswald. Allerdings war es doch nicht nur feucht, sondern wirklich klitschnass, viele lagen regelrecht im Schlamm. Wir haben sie also herausgesammelt und lange hier in der Kirche trocknen lassen. Jetzt sind sie wunderbar abgetrocknet und heute haben wir sie mit möglichst viel Sorgfalt abgebürstet. Die machen jetzt wieder einen ganz vernünftigen Eindruck.
Mit wem haben wir es denn jetzt zu tun?
Es ist leider völlig unklar, wer hier gelegen hat. Die Gruftkapelle wurde entweder kurz vor dem Bau der Kirche oder mit dem Bau zusammen um 1708 eingerichtet: die Bestatteten stammen also aus dieser und der nachfolgenden Zeit. Wir können sagen, Knochen von vier Erwachsenen Individuen und einem Kind liegen hier, aber mehr leider nicht. Durch den schlechten Zustand und die ganze Feuchtigkeit in der Gruft sind die Särge über die Jahrhunderte vermodert, so dass wir nur noch diesen einen Kupfersarg haben und so können wir die einzelnen Personen nicht mehr zuordnen.
Knochen erzählen Geschichten, sagen sie. Welche?
So wenig wir auch wissen, von wem die Knochen eigentlich stammen, erzählen sie uns trotzdem Geschichten. Dieser Oberschenkelknochen zum Beispiel erzählt uns von einem cirka 12-Jährigen Kind. Der Knochen ist sehr verbogen und das heißt: Dieses Kind hatte Rachitis. Das ist ganz typisch für diese Erkrankung, die durch Vitamin-D-Mangel ausgelöst wird. Das Kind ist an dieser Krankheit gestorben. Die Kinder Adeliger hat man oft nicht draußen spielen lassen, damit ihnen nichts passiert. Aber was passiert ist, war eben, dass sie kein Sonnenlicht abbekommen und deswegen auch kein Vitamin D ausbilden konnten.
Sie wurden also regelrecht totgehätschelt. Dann liegt hier vor uns ausgebreitet sozusagen Medizingeschichte!
Ja. Auch über die Schädel lässt sich viel erzählen. Leider haben wir nur zwei gefunden, wenngleich hier fünf Menschen bestattet wurden. Und auch diese beiden Schädel sind stark fragmentiert. Aber: Sie sehen beide eher weiblich aus, und was wir sagen können ist, dass die Zahnpflege schlecht war beziehungsweise nicht existiert hat. Wir sehen hier, dass beide ganz starke Karies hatten. Zum einen dürfte die Ernährung kohlenhydratreich gewesen sein, womöglich gab´s viel Zucker, Süßigkeiten. An einigen Backenzähne sind Abszesse zu sehen. Also das hat auch wehgetan und es gab starke intravitale Zahnverluste: die Zähne sind schon zu Lebzeiten ausgefallen. Es waren also ältere Individuen, dafür spricht auch die starke Abrasion, das heißt die Kauflächen sind stark abgearbeitet.
Süßigkeiten und Zucker zur damaligen Zeit? Könnte man also sagen, dass müssen reiche Leute gewesen sein?
Es ist immer ganz schwer zu sagen, wer in einer Gruft liegt, wenn wir keine Särge dazu haben. Wir gehen aber schon davon aus, dass diese Knochen hier nicht vom Friedhof reingekommen sind. Wer in der Gruft bestattet wurde, verfügte natürlich über Wohlstand – und klar: Man kann natürlich auch sagen, dass eine zuckerreiche Ernährung, die sich nur die Reichen leisten konnten, zu dieser starken Kariesbildung geführt hat.
Es finden sich auch Tierknochen dazwischen. Wie kommen die hierher?
Wir finden immer ganz viele Tierknochen, ja. Sie sind reingekommen, weil Tiere hier auch gewohnt haben. Katzen und Marder sind reingelaufen, verzehrten hier ihre Beutetiere, sind dort selber gestorben. Das ist ganz üblich. Wir finden auch Schlachtabfälle in Grüften, weil man diese Grüfte oft einfach auch als Müllschlucker benutzt hat.
Was für Funde machen Sie außerdem?
Wir finden ganz viel Unrat! Fahrräder, Gehwegplatten, Schulranzen, Coladosen, Zigarettenpackungen, Unterhosen, Feuerwerkskörper – alles was herum liegt auf der Straße, wird in so eine Gruft geschmissen. Oder eben auch Knochen, die auf den Friedhöfen dann auftreten. Sowas kommt dann die Gruft: Aus den Augen aus dem Sinn. Wir finden in Grüften oft so unfassbar viel Müll, aber eben auch menschliche Überreste. Und die werden natürlich mit aller Sorgfalt geborgen und dann auch wieder bestattet.
Wie geht es weiter für diese Funde hier?
Die Knochen, die wir jetzt gefunden und gereinigt haben, werden in dem Kupfersarg gestattet, der gerettet werden konnte und nun restauriert wurde. Sie stammen natürlich aus anderen Bestattungen, aber wir wollen sie würdig wiederbestatten. Es sind ja alles Überreste von Menschen. Wir legen ein Leinentuch in diesen Sarg, der ganz wunderbar aussieht, und die Knochen kommen hinein. Sie werden dann einfach mit diesem Tuch umhüllt. Wir denken, damit wären die Verstorbenen auch zufrieden gewesen.
Warum ist diese Arbeit so wichtig?
Uns ist immer ganz wichtig, den Willen der Verstorbenen zu erfüllen. Die wollten natürlich nicht in Dreck und Schlamm liegen, nicht wild umhergeworfen werden, sondern die wollten in einer vernünftigen Bestattung dem Jüngsten Tag und damit der leiblichen Auferstehung entgegenschlafen. Für uns ist es einfach wichtig, diese Grüfte wieder würdig herzustellen und zu einem Bestattungs- und damit eben auch zu einem Auferstehungsort zu machen.