„Wenn ich nicht mehr bin, dann vermisst mich eh keiner“

Die Frau am anderen Ende der Leitung ist verzweifelt. Erst die Scheidung, dann der Arbeitsplatzverlust. Jetzt wolle sie allem ein Ende setzen und sich mit ihrer sechsjährigen Tochter von einem Hochhaus stürzen.

In Situationen wie diesen sind Bernd Müller und seine Mitstreiter hellwach. „Wenn ein Anrufer Suizidgedanken äußert, sollte man das immer ernst nehmen“, sagt er. Ratsam sei es, konkret nachzufragen, was derjenige plane und wer davon alles betroffen wäre, rät Müller. Oft helfe es Menschen mit Suizidabsichten bereits, wenn sie mit jemandem über ihre Gedanken sprechen könnten. Zugleich sei es für Seelsorger aber wichtig, die Entscheidung bei dem anderen zu belassen und sie sich nicht selbst aufzuladen.

Bernd Müller ist stellvertretender Leiter der katholischen Telefonseelsorge „Ruf und Rat“ in Stuttgart. 33.054 Anrufe gingen im vergangenen Jahr bei der katholischen und der evangelischen Telefonseelsorge in der Schwabenmetropole ein. „Wir sind damit an der Grenze dessen, was wir leisten können“, sagt Müller. Die Telefone stünden eigentlich nie still. Fast 25.000 Stunden hätten die 185 ehrenamtlichen Mitarbeiter der beiden Telefonseelsorgestellen 2023 am Telefon verbracht. Durchschnittlich 22 Minuten dauerte ein Telefonat.

Die von den Anrufern am häufigsten genannten Themen waren Einsamkeit (21 Prozent), familiäre Konflikte (18 Prozent), Depressionen (16 Prozent), Ängste und Erkrankungen (je 15 Prozent) sowie Suizidgedanken (8 Prozent). Bei der Seelsorge via E-Mail oder Chat, die die beiden Telefonseelsorgestellen auch anbieten, spielten Suizid-Absichten noch eine deutlich größere Rolle, so Martina Rudolph-Zeller, Leiterin der evangelischen Telefonseelsorge. In der Chatberatung drehten sich im vergangenen Jahr 26 Prozent der Gespräche um Selbsttötungsgedanken, in der E-Mail-Seelsorge gar 43 Prozent.

Sätze wie „Wenn ich nicht mehr da bin, vermisst mich eh keiner“ oder „Mein Leben macht doch keinen Sinn mehr. Was soll das noch?“ seien keine Seltenheit. Ziel der Telefonseelsorger sei es, den Anrufer aus seiner Perspektivlosigkeit und seinem Tunnelblick zu befreien, so Rudolph-Zeller. Wenn einen dann irgendwann eine Nachricht erreiche mit den Worten „Der Kontakt hat mir sehr geholfen, Danke dafür“, wisse man, warum man diese Arbeit macht, meint sie.

Zwischen 9.000 und 10.000 Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr durch Suizid. Ihre Zahl sei damit höher als die der Todesfälle durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen, sagt Rudolph-Zeller. „Aber die gute Nachricht ist: Menschen mit Suizid-Absichten kann geholfen werden.“ Über die eigene seelische Not zu sprechen, entlaste und mindere den suizidalen Druck, sagt die Expertin.

Bei der evangelischen Telefonseelsorge Stuttgart engagieren sich 118 Ehrenamtliche, bei „Ruf und Rat“ 67. Alle haben eine Ausbildung über mindestens 150 Stunden durchlaufen, alle erhalten eine regelmäßige Supervision. Einer der Ehrenamtlichen ist Werner. Der 67-Jährige engagiert sich seit fünf Jahren bei der evangelischen Telefonseelsorge, weil er „etwas zurückgeben“ will, wie er sagt. Am wichtigsten sei es als Telefonseelsorger, zuzuhören. Manche Anrufer wollten auch beten. Dass er nach einem Gespräch oft nicht wisse, wie es mit den Anrufern weitergegangen sei, gehört für Werner dazu: „Man muss sich immer wieder sagen: Ich höre zu und biete Hilfestellung, indem ich die richtigen Fragen stelle. Aber was passiert oder nicht passiert, steht am Ende nicht in meiner Macht.“ (0626/20.03.2024)