Wenn Erwachsene zu weit gehen

Wenn Erwachsene zu weit gehen, sollen Kinder auf ihr Recht bestehen. Dabei hilft jetzt ein neues Kinderbuch der Alsterdorf Assistenz Ost.

Die Autorin Julia Ginsbach zeichnet Olgun, die Hauptfigur des Buches
Die Autorin Julia Ginsbach zeichnet Olgun, die Hauptfigur des BuchesFriederike Lübke

Hamburg. Julia Ginsbach zeichnet einen schwarzen Strich aufs Papier, dann noch einen, und schon blickt ein wütender kleiner Junge vom Flipchart. Die Zeichnerin verpasst ihm noch Strubbelhaare und rote Ohren, „weil er so wütend ist“, erzählt sie den Kindern im Raum. Etwa 25 Kinder von 5 bis 14 Jahren hören ihr gespannt zu, als sie die Geschichte des Jungen erzählt. 
Er heißt Olgun und ist von seiner Erzieherin ungerecht behandelt worden. Sie hat ihn angeschrien und hart angefasst, weil er Geschirr zerbrochen hat. Dabei war es ein Versehen und keine Absicht. Jetzt ist Olgun stinksauer, aber er schämt sich auch. Erst seine Freundin Lisa kann ihn überzeugen, der Erwachsenen zu sagen, dass sie sich nicht richtig verhalten hat, denn: „Das war nicht okay“, sagt Julia Ginsbach den Kindern im Raum. Mit diesen Worten, die an diesem Nachmittag so oft wie nur möglich wiederholt werden, sollen die Kinder lernen, für ihre Rechte einzustehen.

"Müller-Rödinger, die blöde Kuh!"

Der Ausspruch ist auch der Titel des neuen Kinderbuches, das die Stiftung Alsterdorf Assistenz Ost im Restaurant „Kesselhaus“ vorgestellt hat. Gekommen sind nicht nur Mütter und Väter mit ihren Kindern, sondern auch die Illustratorin und Autorin des Buches, Julia Ginsbach. Etwas mehr als ein Jahr hat sie in Absprache mit der Einrichtung an der „Mutmachgeschichte“ gearbeitet. 
Seit 2012 müssen Einrichtungen ein Schutzkonzept für die Kinder haben, die sie betreuen. Die evangelische Stiftung hatte bereits ein Plakat, auf dem Kinder nachlesen können, welches Verhalten von Erwachsenen sie nicht hinnehmen müssen. „Wir haben uns aber auch ein Buch gewünscht, das man kleineren Kindern vorlesen kann“, sagt Michael Ollech von der Stiftung. Thema: Wenn Mitarbeiter sich falsch verhalten und Grenzen überschreiten. So kam man auf Julia Ginsbach, die zusammen mit der Schauspielerin Veronica Ferres bereits mehrere Kinderbücher wie „Fass mich nicht an!“ oder „Nein, mit Fremden gehe ich nicht!“ veröffentlicht hat.
Julia Ginsbach ist nicht nur Illustratorin und Autorin. Beim Lesen des Buches wird sie auch zur Alleinunterhalterin, die die Aufmerksamkeit der Kinder fesselt. In verschiedenen Stimmlagen trägt sie das Buch vor und lässt Olguns Wut deutlich werden: „Die Müller-Rödinger, die blöde Kuh!“, schimpft sie. Die Kinder sollen lernen: „Das war wirklich nicht okay von der Müller-Rödinger.“ 

Verständnisvolle Freundin hilft

Die Geschichte ist ein typisches Lehrstück für Kinder: Es gibt die verständnisvolle Freundin, die mit dem wütenden Jungen nach draußen geht, ihn sich beruhigen und aussprechen lässt, bevor sie den richtigen Vorschlag macht. Und am Ende sieht natürlich auch die Erzieherin ihren Fehler ein und entschuldigt sich. Das klingt fast zu gewollt, um glaubwürdig zu sein, aber Michael Ollech sagt, dass alle Figuren Julia Ginsbachs Idee waren, und die Mutter von fünf Kindern berichtet, dass sie solche Kinder kennt – sowohl solche wie Olgun, die sich schnell aufregen, als auch solche wie Lisa, die ganz genau wissen, wie man sie wieder beruhigen kann. 
Kinder zu stärken, ist Julia Ginsbach ein besonderes Anliegen. „Es gibt eine Menge vorlauter Kinder, aber die sind nicht unbedingt stark“, sagt sie. Viele hätten zum Beispiel Probleme, sich abzugrenzen. Jungen wie Olgun rasten öfter aus und stellen die Geduld ihrer Erzieher, Betreuer oder Lehrer auf eine harte Probe. Trotzdem hätten sie wie alle Kinder ein Recht darauf, fair behandelt zu werden. Bewusst haben sich die Künstlerin und ihr Auftraggeber entschieden, keinen drastischen Fall zu zeigen, sondern eine Alltagssituation, die viele Kinder schon einmal erlebt haben. Damit die Botschaft ankommt, gibt es auch noch einen „Regel-Rap“, der die Botschaft auf den Punkt bringt.