Wenn einer plötzlich geht
Über den Predigttext zum Sonntag Invokavit: Johannes 13,21-30
Predigttext
21 Als Jesus das gesagt hatte, wurde er im Innersten aufgewühlt und er bezeugte und sprach: „Amen, amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern.“ 22 Seine Schüler sahen einander an – ratlos, über wen er rede. 23 Einer von seinen Schülern lag am Busen Jesu; den liebte Jesus. 24 Da nickte Simon Petrus diesem zu, um sich zu erkundigen, wer es sei, von dem er spreche. 25 Da lehnte der sich, wie er war, an die Brust Jesu zurück und sagte ihm: „Herr, wer ist’s?“ 26 Jesus antwortete: „Der ist’s, dem ich den Brocken eintauchen und geben werde.“ Da tauchte er den Brocken ein, nahm ihn und gab ihn dem Judas, Sohn des Simon Iskariot. 27 Und nach dem Brocken ging dann der Satan in ihn ein. Da sagte ihm Jesus: „Was du tun willst, tu alsbald!“ 28 Das aber verstand keiner von denen, die zu Tisch lagen, wozu er das zu ihm sprach. 29 Da ja Judas die Kasse führte, meinten nämlich einige, dass Jesus ihm sage: „Kaufe, was wir für das Fest nötig haben!“ oder dass er den Armen etwas gebe. 30 Als der nun den Brocken genommen hatte, ging er sogleich hinaus. Es war aber Nacht.
Übersetzung: Klaus Wengst
Wir bauen uns unsere Welt zurecht, je unübersichtlicher, bedrohlicher alles um uns herum wird, desto mehr klammern wir uns daran, dass unsere eigene kleine Welt aber klar bleibt und überschaubar und wir wissen, wer wohin gehört und wer zu wem und wer wie ist und immer schon war… Der?! So’n netter Junge war das, der kann doch kein Nazi sein?! Die? So? Auf keinen Fall! Ich kenn die. Von uns? Nein, von uns würde das niemand…! In der Nachbarschaft hat auch niemand was gemerkt, wie denn auch.
Niemand hat etwas gemerkt
Das hören und lesen wir und schütteln mit dem Kopf – solange wir unbeteiligt sind. Wie kann es denn sein, dass niemand was gemerkt hat? Wie kann es denn sein, dass niemand sehen wollte, wie kann es denn sein?
Es kann sein, dass wir ausblenden, was wir nicht ertragen können, dass wir nicht sehen und nicht hören wollen, was uns zu weh täte, unsere Welt ins Wanken brächte, auch wenn es uns schier ins Gesicht springt. Da kann vor uns jemand zutiefst aufgewühlt sein: Ich sag euch jetzt was. Da kann jemand vor unseren Augen das Offensichtliche tun: Der, dem ich das Brot gebe – und sagen: Geh raus, tu, was du tun musst. Unübersehbar eigentlich…
Und trotzdem macht das Hirn was Eigenes, bastelt sich was zusammen, ordnet alles wieder ein ins Vertraute, weigert sich, das Offensichtliche zu sehen, zu hören, zu begreifen. Weigert sich schlicht; findet plausible Erklärungen: Vorbereitungen fürs Fest, Gaben für die Armen, halt das, wofür der doch da ist, wie ihn alle kennen, mit vollem Einsatz, mit Engagement. Nicht sehen wollen, was vor sich geht, weil wir es nicht ertragen würden. Nicht hören wollen, was uns jemand ins Gesicht sagt, weil es uns den Boden unter den Füßen wegreißt.
Niemand ist ihm nachgelaufen
Sitzen da. Sehen zu, lassen zu, wie einer von uns in die Nacht geht, raus aus der Gemeinschaft, raus aus dem Leben, in die Nacht, ins Finstere. Es war Nacht. Niemand kanns begreifen, niemand wills verstehen – und das, obwohl es schon so lange ausgesprochen ist: Einer von euch ist ein Teufel (Johannes 6,70f.). Einer von euch bringt alles durcheinander. Aber wer will sich erinnern an sowas? Wer will sich erinnern an etwas, was Gemeinschaft so erschüttert, was unser Selbstbild, unser Grundgefühl ins Wanken bringt?
Nicht sehen können, nicht hören wollen, was unser Fassungsvermögen übersteigt, was alles zerstört, worauf wir uns verlassen. Augen zu und durch. Egal, was die Fakten sagen. Egal, was die sagen, die den Durchblick haben. Was ich nicht hören kann, ertragen kann, das blende ich aus. Das bastele ich mir zurecht, dass es wieder passt in meine kleine Weltwahrnehmung.
Aber: Auf Dauer geht das nicht, nicht gut jedenfalls. Und: Das lähmt. Lässt mich sitzen bleiben anstatt dem hinterherzulaufen, der raus ist. Anstatt zu suchen, was gerade verloren gegeben ist. Anstatt zu versuchen, etwas zu tun.
Vielleicht geht es genau darum in den nächsten Wochen: Dass wir uns trauen hinzuschauen und hinzuhören, das zu sehen, was uns unbegreiflich erscheint, was uns erschüttert. 7 Wochen ohne Blockaden, 7 Wochen Spielräume eröffnen, das kann ja auch das heißen: Nicht abstumpfen, nicht weggucken, nicht überhören, was weh tut. Augen auf, Ohren auf – und dann auch: aufstehen und anpacken. Auch wenn‘s weh tut. Sieben Wochen mitgehen, den Weg leidenschaftlichen Lebens, zu dem Schmerzen gehören, weil mit allen Sinnen etwas wahrnehmen genau das heißt: Mitten in der Nacht offene Augen und Ohren für das, was ist, um zusammen durch diese Nacht zu gehen und auf den Tag, das Morgenlicht, den neuen Tag zu hoffen, am dritten Tag und immer.