Wenn die Gefängnisstrafe von Eltern zur Zerreißprobe wird

Wenn ein Elternteil in Haft kommt, scheint nichts, wie es vorher war. Viele Kinder leiden unter der neuen Familiensituation – oft bis weit nach der Haftentlassung.

Kinder leiden besonders, wenn ein Elternteil nicht mehr da sein kann
Kinder leiden besonders, wenn ein Elternteil nicht mehr da sein kannImago / Panthermedia

Als sein Vater in Haft kam, war Stefan* 14 Jahre alt. Der Vorwurf: sexueller Missbrauch an einem minderjährigen Mädchen. Noch während Bernd T. bei seiner Arbeit war, nahmen Polizisten ihn fest. Als Stefan nach Hause kam, war der Vater schon in der Justizvollzugsanstalt in Osnabrück. Fragt man ihn nach jenem Tag, wird der heute 17-Jährige einsilbig. „Schock“, sagt er. „Einfach ein Schock.“

Sein Vater konnte streng sein, auch einmal Standpauken halten, sagt Stefan, aber: „Mit ihm konnte ich über alles reden. Auch über Männersachen. Die Nähe fehlte mir.“ Früher lebte er mit seinen Eltern und zwei Geschwistern in einem mehrstöckigen Haus mit Swimmingpool im schleswig-holsteinischen Bad Oldesloe. Stefan hatte ein eigenes Zimmer unterm Dach. Im Sommer spielte er mit seinem Vater im Garten. Bernd T. scherzte öfters, schubste ihn auch mal in den Pool. Sein Vater, ein Straftäter?

„Kinder haben vor der Inhaftierung des Vaters oder der Mutter zu dem betroffenen Elternteil oft eine scheinbar normale Beziehung“, sagt Jörg Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut am Universitätsklinikum Ulm. „Die Vorstellung, dass er sich strafbar gemacht hat, stellt sie vor eine Zerreißprobe.“

Stefans Mutter fühlte sich überfordert

„Wie sollte ich es den Kindern sagen?“, so Sabine W.. Schließlich bat sie das Jugendamt um Hilfe. Zwei Mitarbeiter kamen zu der Familie nach Hause, um Stefan und seinen Geschwistern zu erklären, wo sein Vater war. „Alleine hätte ich das nicht geschafft“, sagt Stefans Mutter. „Ich wusste nicht, wie meine Kinder reagieren.“

Mit dieser Angst ist Sabine W. nicht alleine. „Immer wieder bitten uns betroffene Mütter oder Väter um Hilfe“, sagt Laura Rahlf, Sozialpädagogin der Stadtmission Kiel. Sie begleitet Kinder von Inhaftierten dabei, mit der Veränderung umzugehen. Momentan hat Rahlf Kontakt zu rund 20 Familien, verteilt auf ganz Schleswig-Holstein. „Meist kommen Elternteile dann auf uns zu, wenn die Nachricht noch neu ist und der Partner gerade in Untersuchungshaft kam“, sagt sie. „Kinder werden oft vergessen, leiden aber unter der neuen Familiensituation.“

Rahlf rät Eltern, ehrlich zu sein. „Irgendwann erfahren Kinder ohnehin, dass Vater oder Mutter in Haft ist“, erklärt sie. „Wenn Eltern nicht offen damit umgehen, kann das Vertrauen der Kinder zusätzlich Schaden nehmen.“

Stefans Alltag war plötzlich ein anderer

Als Bernd T. zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, veränderte sich der Alltag für Stefan komplett. Mit seiner Familie musste er in eine kleinere Wohnung ziehen. Seinen Vater konnte er während der Corona-Pandemie nur einmal sehen, mit Anmeldung. Manchmal schickte Bernd T. Briefe, manchmal telefonierten sie, wenn der Vater stabil war. „Es gab aber auch Phasen, in denen er am Boden war“, sagt die Mutter. Bernd T. war in Therapie.

Mit seinen Freunden sprach Stefan damals nicht über seinen Vater. Aus Scham, wie er sagt. Seine Schwester wurde in der Klasse gemobbt. „Dein Vater ist im Knast“, sagten Mitschüler ihr ins Gesicht.

„Gerade am Anfang ist es für Kinder schwierig, über das Thema zu sprechen“, sagt Rahlf. „Angehörige sollten ihnen Stabilität signalisieren und ihnen zeigen, dass sie da sind.“ Für die Kinder organisiert die Stadtmission Freizeiten, um ihnen den Austausch mit anderen Betroffenen zu ermöglichen. Den Besuch mit den Kindern im Gefängnis schob Stefans Mutter vor sich her, sagt sie. „Für sie musste das schrecklich sein: Abtasten lassen, Gegenstände abgeben.“

Kinder erleben durch eine Inhaftierung in ihrer Familie erhebliche Veränderungen. Manchmal kann das eine Erleichterung sein, dass etwa Gewalt gegen die Mutter endet, oft kommen aber andere Belastungen dazu. „Die Probleme können sich so summieren“, sagt Fegert. „Kinder Inhaftierter sind deshalb eine Hochrisikogruppe für emotionale Auffälligkeiten und Verhaltensauffälligkeiten.“

Erste Hilfe bieten Familienberatungsstellen

Der Experte empfiehlt Betroffenen, bei der Familienberatung erste Hilfe zu suchen. Laut Rahlf berichten manche Eltern von Verhaltensänderungen. „Zum Beispiel: Mein Kind wird in der Schule schlecht behandelt. Oder: Nach einem Telefonat mit dem Inhaftierten verhält es sich plötzlich anders.“ Manchmal brauchten Kinder eine Therapie.

Inzwischen ist Bernd T. aus der Haft entlassen. Doch Frau und Kinder leben getrennt von ihm; das Verhältnis ist angespannt. Stefan sieht seinen Vater jedes Wochenende. Die Eltern teilen sich das Sorgerecht. Seine Schwester aber darf nicht mit Bernd T. allein sein – aus Sicherheitsgründen.

Die Zeit nach der Haftentlassung stellt Familien oft vor neue Probleme. Einige Eltern trennen sich. Gerade wenn Alkohol und Missbrauch in der Familie eine Rolle spielen, so Fegert, könne die Beziehung auch nach der Haft geschädigt bleiben. In anderen Familien besteht während der Haft ein enger Kontakt. „Wenn ein Elternteil nach längerer Haftzeit zurückkommt, versucht er aber oft an die Zeit davor anzuknüpfen. Die Familie hat dann längst einen anderen Rhythmus angenommen: ohne ihn.“

Alltagsrituale beibehalten

Fegert rät dazu, den Alltag mit seinen üblichen Ritualen beizubehalten. „Aus der Haft Entlassene sollten sich an die Abläufe anpassen, um Kindern Stabilität zu geben“, sagt sie. „Statt der Mutter kann zum Beispiel auch der Vater die Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Aber er sollte es zur gleichen Uhrzeit, auf jeden Fall zu den gleichen Rahmenbedingungen tun.“

Heute ist die Zeit der Haft für Stefans Familie vorbei. Sämtliche Briefe seines Vaters von damals hat er weggeworfen. Von dem gemeinsamen früheren Haus steht noch ein alter Kleiderschrank im Zimmer. Und auf Stefans Bett liegt ein Kissen, auf dem sein Vater früher immer schlief. Das Kissen hat er bis heute nicht gewaschen. Ein bisschen, sagt Stefan, riecht es noch nach ihm.

*Die Namen der betroffenen Familie wurden von der Redaktion geändert