Wenn der Norden lockt

Erst Schreckens-, dann Sehnsuchtsort: Die skandinavischen Gegenden faszinieren die Menschen von alters her.

TSEW

Keine Adventszeit ohne niedliche zipfelmützige Wichtel, rot-weiße Muster aus Sternen oder Herzchen und Teelichter in kleinen Glashaltern. Traditionen, die in nördlichen Ländern wie Dänemark, Norwegen, Schweden oder Finnland in der Vorweihnachtszeit gepflegt werden, erfreuen sich auch bei uns zunehmender Beliebtheit. Statt Glühwein trinkt man Glögg auf dem Weihnachtsmarkt, statt der erzgebirgischen Schwibbögen steht die als „Schwedenleuchter“ bekannte pyramidenförmige skandinavische Variante im Fenster., hier und dort wird das „Luciafest“ mit Lichterkronen und Safrangebäck gefeiert. Mit dem dänischen Wort hygge, das ungefähr mit „Gemütlichkeit“ übersetzt werden kann und das es speziell auch noch in der Variante Julhygge – Weihnachtsgemütlichkeit – gibt, verbindet man inzwischen auch in Deutschland behagliche Stunden auf dem Sofa, eingekuschelt in eine Wolldecke, während der Tee in einer Tasse mit Norwegermuster dampft. Der Norden lässt grüßen.

Traditionen mit einer Portion Mythologie

Die Wichtel – je nach Land Nisse, Tomte oder Tonttu genannt – essen gerne Milchgrütze und bringen Geschenke; das wissen wir aus Astrid Lindgrens Erzählungen und den Bilderbüchern über den Kater Findus. Dass die Vorfahren der kleinen Hausgeister in deutlich weniger sympathischer Form durch die alten nordischen Sagas geisterten und manches Unheil anrichteten, ist weniger bekannt. Ähnliches gilt für den Julbock oder finnisch Joulupukki, den Weihnachtsbock, der als Strohdeko im Weihnachtsbaum hängt und in Finnland sogar mit den Weihnachtsmann verschmolz: Es wird vermutet, dass er von der Ziege abstammt, die bereits Thors Kriegswagen zog und als Fruchtbarkeitssymbol verehrt wurde. In den Traditionen zum christlichen Kirchenjahr steckt also eine gehörige Portion „germanischer“ Mythologie.

Vom Schreckens- zum Sehnsuchtsort

Sicherlich hat der Siegeszug nordischer Möbelhäuser und Modelabel dazu beigetragen, die skandinavische Lebensart in ganz Deutschland zu verbreiten, aber ihre Anziehungskraft geht viel weiter zurück. Bereits seit Jahrhunderten richtet sich der Blick aus Deutschland nach Norden. Nachdem die wilden Horden der Wikinger den christlichen Glauben angenommen und ihre gefürchteten Raubzüge aufgegeben hatten, wurde der skandinavische Raum allmählich vom Schreckens- zum Sehnsuchtsort.

Handelsbeziehungen erwiesen sich als für beide Seiten lukrativ. Die Reformation machte die Menschen in weiten Teilen Deutschlands und der nördlichen Länder zu Glaubensgeschwistern. Gleichzeitig blieb der Norden faszinierend rätselhaft: War der Nordpol aufgrund von vulkanischer Hitze im Winter vielleicht eisfrei? Wimmelte das Meer dort von gefährlichen Ungeheuern?

Immer wieder wagten sich Abenteurer und Forschungsreisende – darunter auch vereinzelte Frauen – in die als menschenfeindlich empfundenen Regionen nahe des Polarkreises und berichteten von rauer, aber gleichzeitig überwältigend schöner Natur: Der Sommer, in dem die Sonne kaum oder gar nicht untergeht, weckt ungeahnte Lebenslust. Im Gegenzug wird der eisige Winter ohne Sonnenstrahl erträglicher durch intensiv glitzernde Sterne und das mystische Nordlicht, das in gelbgrünen Wellen und Fächern über den Himmel treibt.

Vorstellung vom freien nordischen Menschen

Vielleicht ist es diesen Erfahrungen von gewaltigen, ungezügelten Naturmächten geschuldet, dass man auch der nordischen Mythologie und Literatur eine kraftvollere Ursprünglichkeit zuschrieb als der angeblich „verfeinerten“ Lebensweise südlicherer Kulturen. Im 19. Jahrhundert nahm diese Verklärung zu. Während sich die Menschen in Deutschland durch die Industrialisierung zunehmend entfremdet fühlten und gleichzeitig auf der Suche nach einer gemeinsamen nationalen Identität waren, sah man in Skandinavien das Heil einer einfachen, naturnahen Lebensweise. Dass zur gleichen Zeit Norwegen und Schweden von einer Auswanderungswelle Richtung Amerika erfasst wurden, weil das Leben in den Ursprungsländern so karg und armselig war, wurde dabei aus deutscher Sicht geflissentlich ausgeblendet.

Stattdessen pries der Komponist Richard Wagner den nordischen Menschen in seinem Opernzyklus „Der Ring der Nibelungen“ als heldenhaft und frei – und prägte nebenher durch die Kostüme seiner Inszenierungen das Bild vom gehörnten Wikingerhelm, der seitdem durch die Bilderwelt geistert, sich aber archäologisch nicht nachweisen lässt. Verschiedene Autoren – keineswegs nur deutsche – theoretisierten wild über die altnordischen Wurzeln einer indogermanischen „Rasse“ und deren Überlegenheit über andere Völker. Die Wiege dieses Volksstammes wurde mal an einem zu Urzeiten eisfreien Nordpol, mal in einer versunkenen Ebene zwischen Skandinavien und den britischen Inseln verortet, aber diese fantastischen Vorstellungen taten der Beliebtheit der Thesen keinen Abbruch. Ihre tendenziell antisemitische Ausrichtung floss später in den großen Strudel völkischen, nationalsozialistischen Denkens ein.

Sinnbild für Glück und Gemütlichkeit

Im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden die skandinavischen Länder aus anderen Gründen zu Vorzeigemodellen: Sie schafften den Übergang von bäuerlichen Gesellschaften zu modernen, sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaaten ohne größere Brüche. Die Welt schien heil zu sein im Norden; so idyllisch, wie Astrid Lindgren es in ihren Kinderbüchern darstellt. Familiärer Zusammenhalt, ein starkes Wir-Gefühl und eine freie, demokratische Grundordnung waren die Grundlagen für diese Entwicklung. Ihre Schattenseiten sind ein hoher Anpassungsdruck – niemand soll herausstechen, weder positiv noch negativ – und ein großes Misstrauen gegenüber Ausländern, das sich aktuell in den politischen Erfolgen rechtsnationaler Parteien abbildet.

Trotzdem bleibt der Norden ein Sehnsuchtsort für viele Deutsche, nicht nur zur Winterzeit. Der Erfolg von Serien wie „Vikings“ oder „Norsemen“ zeigt, dass das Interesse an der archaisch anmutenden Wikingerkultur ungebrochen ist, auch wenn vieles davon auf Klischees beruht. Die Bilder von Weite, unberührter Natur, modernen Städten, edlem Design und aufgeschlossenen Menschen leben weiter in den Köpfen. Und ein kleines rotes Holzhäuschen an einem einsamen See ist für viele das Sinnbild für Glück und Gemütlichkeit. Hygge eben.