Wenn das Trauma der toten Mutter vor Rätsel stellt – Neues Buch
“Warum hortete meine Mutter Decken, Porzellan, Vitaminpräparate?”, fragt sich Marlen Hobrack, als sie die Wohnung der Verstorbenen ausräumt. Auch Putzmittel spielen in ihrem Buch über diese Erfahrung eine wichtige Rolle.
Der Tod der Mutter ist ein tiefer Einschnitt. Besonders dann, wenn – wie im Fall der Schriftstellerin Marlen Hobrack – die Mutter über lange Zeit Sachen gehortet hat. In ihrem neuen Buch “Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt”, beschreibt sie diese schwierige Situation. Das Buch, das am Dienstag erscheint, ist “der Versuch, meine Mutter zu bergen, zu ihrem Kern vorzudringen, der in oder unter dem Hort verborgen ist.”
Hobrack ist es wichtig zu betonen, dass ihre Mutter kein Messie gewesen sei. “Meine Mutter hortete, was jedenfalls dem Prinzip nach sinnvoll war – auch wenn sich nicht jedem das Prinzip ihrer Sammlung erschloss. Vor allem aber kaufte meine Mutter. Sie kaufte und kaufte, bis die Masse der gekauften Dinge sie zu ersticken drohte”, erklärt die Schriftstellerin. Und weiter: “Meine Mutter hortete Dinge, seit ich denken kann.” Allerdings habe sie damit erst nach dem Ende der DDR angefangen. “Die DDR-Gesellschaft war keine Konsumgesellschaft, das fanden die meisten schlimm. Für meine Mutter war es ein Vorteil: Die Dinge drängten sich ihr nicht auf”, erklärt Hobrack.
Jeder Mensch hat Macken und Defekte, meint die Autorin. Allerdings würden die Macken und Defekte von Eltern häufig zum Problem der Kinder; die Traumata, die über einen kommen, habe man sich nicht ausgesucht. Für Hobrack ist daher die Auseinandersetzung mit dem Leben und Tod der Mutter sowie ihres Nachlasses auch eine Form der Angstbewältigung: Die Erblichkeit des Zwangshortens liege bei 50 Prozent, nehme man heute an. “Das Erbgut ist diese Angst: Wie viel meiner Mutter steckt in mir? Werde ich sein, wie meine Mutter gewesen ist?” Die Autorin konstatiert, das Schreiben sei dem Horten nicht unähnlich. “Man sammelt Ideen, Wörter, Geschichten.”
“Wenn ich all das überstehen will – ihren Tod und die Trauer und das Aufräumen -, dann muss ich schreiben”, stellt die Autorin für sich fest – und beginnt nur wenige Tage nach dem Tod der Mutter damit. Sie weiß aber auch: “Dieses Buch ist Verrat. Es erzählt, was eine andere nicht erzählt wissen wollte.” Schließlich habe ihre Mutter versucht, die gehorteten Dinge sorgsam zu verstecken.
Ihre Mutter war in eine schwierige Familie geboren worden, in der es wenig Liebe, aber viel Prügel gab. Sie kam in der DDR zurecht und bewältigte auch die Wende gut, fand sogar eine Stelle, in der sie verbeamtet wurde. Von ihrem Mann, einem Alkoholiker, hatte sie sich scheiden lassen und zog die drei gemeinsamen Kinder alleine groß. Aber offensichtlich war nicht alles im Lot.
“Der Kauf versprach einen kurzen Kick, einen Lichtblick in ihrem Alltag, obwohl sie, wenn die Waren bei ihr eintrafen, häufig bereits vergessen hatte, dass sie diese überhaupt bestellt hatte”, so erklärt sich Hobrack das Kaufverhalten ihrer Mutter. “Das Absurde an der Situation meiner Mutter war, dass ihre Konsumsucht uns arm machte.” Daher habe ihre Mutter immer weiter arbeiten müssen, trotz verschiedener schwerer Krankheiten. Es schmerzt Hobrack, dass sich ihre Mutter von dem Geld Dinge kaufte statt Erlebnisse oder freie Zeit.
So habe die Mutter etwa so viele Putzmittel besessen, dass ihr der Raum zum Putzen fehlte. Überall standen Kartons mit Reinigungsmitteln herum, so dass die Flächen drumherum einstaubten. “Die Welt, wie wir sie kennen, hätte untergehen können – meine Mutter hätte immer noch über Reiniger und Fleckentferner verfügt.”
Das Buch ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Mythos Mutter und der Konsumgesellschaft. Ein erster Text, den die Autorin, wie sie sagt, wenige Tage nach dem Tod der Mutter für die Online-Ausgabe einer Tageszeitung verfasst habe, sei auf für sie unerwartet großes Echo gestoßen. Die Leserinnen und Leser hätten “ihre ganz persönliche Mutterillusion” entzaubert gefunden.
“Wer die Mutter als Ikone verehren will, nimmt ihr die Menschlichkeit”, sagt Hobrack. Ihr sei es lieber, Mütter und Großmütter zu unterstützen, die ihre Familien umsorgen. Man solle auch bereit sein, anzuerkennen, dass sie Fehler machen, weil sie von ihrer eigenen Herkunft und Erziehung geprägt seien. “Daran ist nichts skandalös”, mahnt die Autorin.
“Erbgut” ist nicht das erste Buch, das Marlen Hobrack über ihre Familie schreibt. In diesem Frühjahr ist eine aktualisierte Neuauflage ihres Werkes “Klassenbeste” erschienen, in dem sie die Arbeiterinnenbiografie ihrer Mutter in einen größeren historischen und wissenschaftlichen Zusammenhang einordnet. Erst die Reaktionen anderer hätten ihr gezeigt, wie repräsentativ die Geschichte ihrer Mutter für ihre Generation von Frauen sei.