Wenn das Kind still zur Welt kommt

Brita Bartels betreut als Krankenhausseelsorgerin in Greifswald Eltern, die ihr Kind verloren haben. Bei aller Trauer erlebt sie mit ihnen auch „heilige Momente“.

Pastorin Brita Bartels vor dem neu geschaffenen Lichthaus auf dem Neuen Friedhof in Greifswald
Pastorin Brita Bartels vor dem neu geschaffenen Lichthaus auf dem Neuen Friedhof in GreifswaldSybille Marx

Greifswald. Sie fällt schon von Weitem auf, diese Grabstelle auf dem Neuen Friedhof in Greifswald: Metallschmetterlinge haben die Eltern hier in den Boden gesteckt, Herzen, Marienkäfer und Engel abgelegt, schillernde Windräder aufgestellt. Ein bisschen sieht es aus wie beim Kindergeburtstag, so bunt und wuselig. Nur dass hier keine Geburtstage gefeiert werden – im Gegenteil.

Vor zehn Jahren hat die Greifswalder Unimedizin auf Initiative der damaligen Seelsorgerin Gerlinde Gürtler auf dem Neuen Friedhof am Rande der Stadt diese Grabstelle für „stillgeborene“ Kinder geschaffen: eine Anlage mit großem Findling, auf der zwei Mal im Jahr in einer Sammelurne jene Kinder beigesetzt werden, die in der Klinik mit noch unter 1000 Gramm tot zur Welt kamen.

Erst vor kurzem wurde die Grabstelle durch ein von Künstler Martin Mixsa geschaffenes Lichthaus ergänzt, eine hohe Laterne, in die man Grablichter hineinstellen kann. „Der Bedarf ist groß. Manche Eltern kommen zu Ostern oder Weihnachten her – oder jedes Jahr zum Sterbedatum ihrer Kinder“, erzählt Pastorin Brita Bartels, die mit Leidenschaft und Empathie von ihrer Arbeit spricht. Seit fast 20 Jahren ist sie als Krankenhausseelsorgerin in Vorpommern beschäftigt, seit 2018 am Eltern-Kind-Zentrum der Uniklinik, beauftragt vom Pommerschen Kirchenkreis. Immer wieder begleitet die 53-Jährige auch Frauen, deren Schwangerschaft unglücklich endete.

Fragen und Schuldgefühle

Wie diese Frau, deren Schwangerschaft schon fortgeschritten war und die ihr im Leib gestorbenes Kind selbst auf die Welt brachte. „Früher hat man in so einem Fall einen Kaiserschnitt gemacht, weil man dachte, man könnte der Frau Leid ersparen“, erklärt Brita Bartels. Inzwischen gelte es als sinnvoller, die Geburt bewusst zu durchleben: mit Wehen, Angst, Schmerz, Erschöpfung. „Die Frauen erleben meist am Schluss der Entbindung auch so etwas wie Geburtsfreude“, sagt Brita Bartels. So liege alles ganz dicht beieinander: Schmerz, Freude, Trauer und Abschied.

Unter den Wehen kämen oft verzweifelte Fragen und Schuldgefühle hoch, am Ende dann der Wunsch, das tote Kind möge gesegnet werden. So auch bei der Frau mit der fortgeschrittenen Schwangerschaft. „Ich habe dem Kind die Hand aufgelegt, ihm mit Salböl ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet und einen Segen gesprochen“, erzählt Brita Bartels. „Das war ein heiliger, fast schöner Moment“. Dass sie als Pastorin Rituale anbieten kann, Zeichenhandlungen, die eine existentielle Erfahrung einbetten, empfindet sie als großes Glück. „Diese Art des Tuns bleibt, auch wenn sonst keiner mehr etwas tun kann.“ Beim Segen für das Kind seien die Eltern schon kurz ins Annehmen gegangen. „So liegt in aller Schwere auch etwas Schönes.“

Auch bei frühen stillen Geburten, wenn ein Fötus in den ersten Wochen „abgeht“ und als „Schwangerschaftsmaterial“ in einer OP entfernt wird, wie es im Klinikdeutsch heißt, bietet die Seelsorgerin ihre Begleitung an. „Ein ungeborenes Kind zu verlieren, ist fast immer traumatisch für eine Frau, egal, in der wievielten Woche es passiert“, sagt sie. Statistisch gesehen ist es zwar nichts Ungewöhnliches, dass eine befruchtete Eizelle in den ersten drei Monaten aufhört sich zu entwickeln, fast ein Drittel aller Schwangerschaften enden so,, schätzen Experten. „Aber das wirkt nach, viele Frauen erleben das als schmerzhaften Verlust“, sagt Brita Bartels – und hätten dann noch das Problem, dass ihr Umfeld den Schmerz nicht verstehe.

Eine Locke als Erinnerung

„Man hat ja von außen noch nichts gesehen“, sagt Brita Bartels. „Aber die Eltern hatten angefangen, sich zu freuen und Pläne zu schmieden.“ Darum helfe sie den Betroffenen meist, die Existenz des Kindes unter ihrer Zeugenschaft auszusprechen und sichtbar zu machen. Die Ungeborenen würden nach den Wünschen der Eltern gekleidet, in einem Körbchen aufgebahrt und fotografiert. „Sie werden wertschätzend behandelt“, sagt sie. Auch Fußabdrücke oder eine Haarlocke seien wichtige Erinnerungen. So könnten die Eltern eher eine Beziehung zum Kind aufbauen, es leichter betrauern.

Wenn Wochen oder Monate später die Beisetzung an der Grabstelle ansteht, einmal im Frühling, einmal im Herbst, hält Brita Bartels in der Trauerhalle des Friedhofs eine Andacht für die Eltern und geht dann mit ihnen herüber zur Grabstelle. Lila Metallschmetterlinge flattern dort auf dem Gedenkstein, als Symbol für Verwandlung und Leichtigkeit; „geliebt, betrauert, nicht vergessen“, steht darauf. 19 stillgeborene Kinder wurden hier im Frühling beigesetzt, etwa 25 Angehörige standen am Grab, erinnert sich die Pastorin. Emotional sei es gewesen, wie jedes Mal. „Da wird noch einmal sehr viel geweint“, sagt sie. „Aber in diesem Rahmen sind das gute Tränen.“

Stillgeborene
Der Begriff „Stille Geburt“ umfasst „Fehl-“ und „Totgeburten“. Von einer Totgeburt sprechen Ärzte, wenn das geborene Kind 500 Gramm oder mehr wiegt und nach der Geburt kein erkennbares Lebenszeichen gibt. Unter 500 Gramm ist von einer „Fehlgeburt“ die Rede. Ab 1000 Gramm sind Eltern verpflichtet, ein Bestattungsinstitut zu beauftragen.