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Weg von alten Dogmen?

Die überraschende Entlassung des obersten Glaubenshüters Ludwig Müller und andere Personalien lassen vermuten, dass Papst Franziskus den Vatikan in eine neue Richtung lenken will

© epd-bild / Cristian Gennari

Großes Stühlerücken im Vatikan: Vor vier Jahren wurde Papst Franziskus von einem genügenden Teil der damals 115 Kardinäle für den richtigen Kapitän gehalten, um einen neuen Kurs für die katholische Kirche einzuschlagen. Seither  – so scheint es – sorgt er mit Personal-entscheidungen dafür, dass sein Kurs auch nach dem Ende seines Pontifikats weitergeführt wird.
Die jüngsten viel diskutierten Personalien: Nur zwei Tage nach der vorübergehenden Beurlaubung seines „Wirtschaftsministers“, Kardinal George Pell, wegen massiver Missbrauchsvorwürfe, hat sich Papst Franziskus von einem noch wichtigeren führenden Mitarbeiter im Vatikan getrennt.
Kardinal Gerhard Ludwig Müller (69), oberster Glaubenshüter der katholischen Kirche, muss nach fünf Jahren an der Spitze der Römischen Glaubenskongregation sein Amt niederlegen. Und zwar für immer. Der Papst gewährt ihm keine zweite fünfjährige Amtszeit. Nachfolger wird die bisherige Nummer zwei der Glaubenskongregation, deren Sekretär, der spanische Kurienerzbischof Luis Francisco Ladaria Ferrer (73).

Ausmaße eines „schweren Erdbebens“

Die Nachricht hat im Vatikan die Ausmaße eines schweren Erdbebens. Als „Säuberung“ bezeichnete ein Kenner der Materie den Vorgang – wobei offenbleibt, ob dies im Anklang an den Sprachgebrauch diktatorischer Regime zu verstehen ist oder als eine notwendige Reinigung, wie sie auch schon Kardinal Joseph Ratzinger einst gefordert hatte. Müller selbst betonte unterdessen, es habe keine Differenzen zwischen ihm und dem Papst gegeben.
Für Kenner der vatikanischen Verhältnisse kommt die Trennung keineswegs überraschend. Schon im ersten Jahr seines Pontifikats hatte Papst Franziskus in einem offiziell nie bestätigten Gespräch mit lateinamerikanischen Ordensleuten gesagt, was er von der dogmatisch reglementierenden Rolle der Glaubenskongregation hielt: Wenn man von der Behörde wegen unkonventioneller Seelsorgemethoden einen mahnenden Brief erhalte, sollte man den höflich beantworten, dann aber weitermachen wie bisher, so seine damalige Empfehlung.
Und wenn Kardinal Müller den Papst darauf hinwies, dass bestimmte, einseitige Ausdeutungen der katholischen Theologie gegen das Lehramt verstoßen, ermunterte Franziskus ihn, einen Artikel in der Vatikanzeitung „Osservatore Romano“ zu schreiben. Die Artikel blieben folgenlose Meinungsäußerungen. Das war ein Affront für einen Mann, der in der Nachfolge seines Lehrmeisters Joseph Ratzinger meinte, er könne und solle weiterhin verbindlich entscheiden, wo die Grenze zwischen katholisch und nicht mehr katholisch verläuft.
Auch bei seinem forschen Zugehen auf die traditionalistischen Piusbrüder entmachtete Franziskus den Pius-Kritiker Müller weitgehend: Er gab dem eigentlich Müller unterstehenden Verhandlungsführer Guido Pozzo weitgehende Entscheidungsbefugnis in diesem Prozess. Seither erhält die Piusbruderschaft schrittweise immer neue Rechte auch in der normalen Seelsorge – allen dogmatischen Bedenken zum Trotz.
Ganz schwierig wurde das Miteinander nach den strittigen Bischofssynoden zum Thema Familie und dem daraus entwickelten Papstschreiben „Amoris laetitia“ (2016). Mit ihm eröffnete der Papst Katholiken in zweiter Ehe unter bestimmten Voraussetzungen den Zugang zu den Sakramenten. Immer wieder versuchte Müller den Spagat, dem Papst und der Synode gehorsam zu folgen, andererseits aber vor allzu liberalen Auslegungen dieser vorsichtigen Öffnung zu warnen. Der Papst seinerseits unterstützte jedoch genau diese Ausführungsbestimmungen.
Als vier konservative Kardinäle – darunter der jetzt verstorbene Joachim Meisner sowie Walter Brandmüller – gegenüber dem Papst ihre „dubia“ (Zweifel) an der moraltheologischen Innovation anmeldeten, machte Müller deutlich, dass er diese Kritik inhaltlich für legitim hielt. Er kritisierte lediglich die Tatsache, dass die vier Kardinäle diesen Streit mit dem Papst öffentlich auszutragen versuchten und damit der Einheit der Kirche schadeten.
Dass es zwischen dem argentinischen Papst und dem deutschen Dogmenhüter zum Eklat kommen würde, zeichnete sich schließlich vor einigen Monaten ab. Damals wurde im Vatikan bekannt, dass der Papst drei Mitarbeiter Müllers fristlos entlassen hatte. Müller verwahrte sich in einem Interview des konservativen katholischen Fernsehsenders EWTN gegen dieses Vorgehen. Spätestens an diesem Punkt war das Zerwürfnis nicht mehr zu übersehen.

Viele neue Kardinäle nicht aus Europa

Bleibt die Frage, wie es mit der Glaubenskongregation weitergeht. Müllers Nachfolger Ladaria gilt als gemäßigt-konservativer Theologe. Möglicherweise wird Franziskus auch schon bald die Chance nutzen, die dogmatische Macht der Glaubensbehörde weiter zu beschneiden und sie noch mehr zu einem „dienenden Werkzeug“ der Weltkirche umzubauen.
Weltkirche – das ist auch das Stichwort für Personalentscheidungen, die der Papst aus Argentinien vor der Trennung von Müller und Pell gefällt hat: Er ist dabei, wie immer, „an die Ränder“ gegangen: Tonga statt Brüssel, Kapverden statt Venedig. Solcherart ernst genommene Vertreter der Weltkirche werden beim nächsten Konklave wohl nicht den Kandidaten des alteuropäischen Establishments wählen.
Auch die fünf im Juni ernannten Kardinäle sind typische „Franziskanische“: Mit einer Ausnahme –  dem Erzbischof von Barcelona Juan Jose Omella (71) – kommen sie von den „Rändern“: aus dem lutherischen Schweden, aus Mali, Laos und El Salvador.
Schon seit Pius XII. (1939-1958) ist das Kardinalskollegium immer internationaler geworden. Unter Franziskus jedoch ist der Trend „weg von Europa“ ganz augenfällig. Durch die konsequente Ernennung vieler Nichteuropäer ist die quasi naturgesetzliche absolute Mehrheit der Europäer bei der Papstwahl, wie sie seit jeher besteht, schon gekippt; die von Europäern plus Nordamerikanern wackelt bedenklich. Und: Schon 60 aller Kardinäle hat Franziskus selbst ernannt.
Mit den zuletzt ernannten Purpurträgern steigt die Zahl der Kardinäle auf 225, darunter 121 unter 80-Jährige, die bei einem Konklave zur Wahl eines neuen Papstes stimmberechtigt sind. Von ihnen kommen 53 aus Europa, davon 24 aus Italien. Mittel- und Südamerika stellt 20 Wähler, Nordamerika 13, Asien und Afrika je 16 und Ozeanien drei.