Was wir anderen schuldig bleiben

Was trieb den jungen Martin Luther um? Darüber schreibt Pastor Tilman Baier, Chefredakteur der Kirchenzeitung in Schwerin.

Der Predigttext des folgenden Sonntags lautet: „Sie sind allzumal Sünder… und werden ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade.“ aus dem Römerbrief 3, 21-28
Hart gearbeitet hatte sie für diesen Augenblick, als sie vor der Prüfungskommission stand und ihren Abschluss mit „Sehr gut“ entgegennahm. Ja, sie hatte wieder einmal alles richtig gemacht. Doch die Glückwünsche der Kommission fielen zwar anerkennend, aber nicht sonderlich freundlich aus. Denn von ihr hatte man auch kein schlechteres Ergebnis erwartet.
So war es immer in ihrem Leben gewesen: „Du musst dich durchbeißen, hier wird dir nichts geschenkt“, hatte die Mutter ihr von klein auf beigebracht. Und auch vom Vater hatte sie ständig gehört: „Leistung, Leistung, Leistung – nur so machst du dich unangreifbar.“ So war sie zu einem Menschen geworden, der sich der Achtung anderer sicher sein konnte. Aber Zuneigung, ja Liebe bekam sie dafür nicht. Zu perfekt war sie, als dass sich jemand getraut hätte, ihre Nähe zu suchen.
Dabei war dieser Panzer doch nur ein Schutz. Dahinter verbarg sich ein kleines Mädchen, das sich vor Verletzungen seiner Seele fürchtete. Das sich aus Angst, nicht wiedergeliebt zu werden, kalt und arrogant gab. Das Tragische dabei war, dass sie sich nicht selbst daraus befreien konnte. Leistung war die einzige Währung, die sie in ihrem Leben gelten lassen konnte, bei sich und anderen – immer darauf bedacht, keinem etwas schuldig zu bleiben.
Was sie dabei übersah, war, dass wir Menschen immer anderen etwas schuldig bleiben: an Aufmerksamkeit, an Zuwendung, an Liebe. Dass dieser Wille nach unbedingter Autonomie und Unverletzlichkeit zu Unmenschlichkeit führt. Dass dies das ist, was die Bibel mit Sünde meint.
Das ist, was auch den jungen Martin Luther umtrieb. Untadelig wollte er in den Augen Gottes werden und unangreifbar durch Menschen. Doch als er erfuhr, dass dies nicht geht, brach ihm eine Welt zusammen. Ihn rettete die Einsicht beim Bibelstudium, dass Gottes Liebe bedingungslos gilt – auch ihm, dem Versager, gerade ihm. Das ist die großartige Botschaft des Reformationstages, gleich, was aus dieser Reformation dann auch wurde. Diese Einsicht wünsche ich dieser Frau und auch mir immer wieder.
Unser Autor
Pastor Tilman Baier
ist Chefredakteur der Kirchenzeitung in Schwerin.
Zum Predigttext des folgenden Sonntags schreiben an dieser Stelle wechselnde Autoren. Einen neuen Text veröffentlichen wir jeden Mittwoch.