Was Nachbarschaft leistet – neues Interesse an altem Thema

Sie kann zu echten Freundschaften führen, aber auch den letzten Nerv rauben: Nachbarschaft betrifft beinah alle Menschen. Seit der Corona-Zeit hat das Thema neue Konjunktur.

Nachbarschaft ist etwas Alltägliches, aber längst nicht immer einfach
Nachbarschaft ist etwas Alltägliches, aber längst nicht immer einfachImago / photothek

„Kennen Sie Ihre Nachbarn?“: Das ist für die Schriftstellerin Milena Michiko Flasar eine Kernfrage, die jeder Mensch sich stellen sollte. Die preisgekrönte Autorin definiert den Begriff umfassend: Mit „Nachbar“ sei „nicht bloß der- oder diejenige gemeint, der oder die nebenan wohnt, sondern auch der Bäcker, unser Partner oder unsere Partnerin, der Teil von uns, der im Dunkeln liegt“.

Wen man als Nachbarn oder Nachbarin wahrnehme, unterscheide sich von Mensch zu Mensch, schreibt der Politikwissenschaftler Sebastian Kurtenbach in seinem Blog. Es könnten diejenigen gemeint sein, die im selben Haus wohnen, in derselben Straße – oder auch diejenigen, die man regelmäßig beim Einkaufen treffe. Schon diese verschiedenen Auffassungen zeigen: Nachbarschaft ist etwas Alltägliches, aber längst nicht immer einfach. Kurtenbach spricht von einer „komplexen Selbstverständlichkeit“.

Nachbarschaft: Eine „komplexe Selbstverständlichkeit“

Ihr nähern sich Wladimir Kaminer und Martin Hyun in ihrem Buch „Gebrauchsanweisung für Nachbarn“ auf leichtfüßige Art an. Zwar steht der Band unter einem Motto von Jean-Paul Sartre – „Die Hölle, das sind die anderen“ -, doch es geht keineswegs nur um Nachbarschaftsstreit, sondern auch um Sitznachbarn im Flieger, um Wohnungsnot, benachbarte Gräber und Nachbarschaft auf engstem Raum: bei Missionen im Weltall. Das ist meist heiter, oft nachdenklich, manchmal melancholisch. Detaillierte Protokolle über vermeintliches Fehlverhalten anderer, wie sie manche Nachbarn führen, mögen zur Frage anregen, über wen sie eigentlich mehr aussagen – über den Beobachteten oder über die Beobachter?

Welches Potenzial in Nachbarschaften liegt, zeigte sich zuletzt während der Corona-Pandemie. Einkaufsangebote für betagte Menschen im Umfeld hingen zu Beginn der Corona-Zeit vielerorts aus – durch Homeoffice und zeitweise Homeschooling waren allerdings auch verstärkte Rücksichtnahme und Kompromisse gefragt. Abgesehen von solchen Situationen sei es oft „gar nicht so leicht, mit Nachbarn in Kontakt zu kommen, insbesondere, wenn man neu in einer Nachbarschaft ist“, schreibt Kurtenbach. Vereine, aber auch digitale Angebote zur Vernetzung könnten hier weiterhelfen.

Eine freiwillige Helferin besorgt Einkäufe für den Nachbarn
Eine freiwillige Helferin besorgt Einkäufe für den Nachbarnepd-bild / Jens Schulze

Gezielte Aktionen, etwa bei nebenan.de oder über die Initiative „Silbernetz“, vermitteln Kontakte in der Nachbarschaft. Selbstverständlich sei Zusammenhalt nicht mehr, beobachtet „Silbernetz“-Gründerin Elke Schilling. Auch wollten manche älteren Menschen keine Hilfe annehmen, etwa auf Grund von schlechten Erfahrungen oder weil sie ihre Nachbarn aufgrund hoher Fluktuation gar nicht kennen würden.

Motto des Experten: „Leben und leben lassen“

Zugleich wächst die Einsamkeit in der Gesellschaft – vor allem unter jüngeren Menschen, wie verschiedene Studien zeigen. Vor Corona habe sich jeder Zehnte einsam gefühlt, der Anteil sei dann auf bis zu 40 Prozent gestiegen, hieß es zuletzt in einem Bericht der Bundesregierung. Demnach leiden bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Alleinerziehende, Flüchtlinge, Migranten oder Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranke besonders an Einsamkeit; Frauen seien tendenziell stärker als Männer betroffen.

Sind Nachbarschaften also eine Chance für mehr Miteinander – oder doch eher ein Stressfaktor? Der Sozialpsychologe Robert Montau rät, nachbarschaftliche Kontakte unabhängig von Konflikten zu knüpfen. „Es ist immer schlecht, wenn man sich erst im Falle eines Streits kennenlernt“, sagte er kürzlich der Zeitschrift Psychologie Heute. Wenn es doch zu einem Streit komme, könne man überlegen, wo die andere Seite vielleicht Recht habe. „Böse Menschen sind selten – meist tragen beide Seiten eine Verantwortung für den Konflikt.“

Die meisten Menschen hielten sich zudem an das Motto „leben und leben lassen“, betont der Experte. „Sie rümpfen vielleicht die Nase, wenn die von nebenan mal wieder Pansen für ihre Hunde kochen. Es ärgert sie, aber sie gehen nicht unbedingt rüber und sagen: Lasst das mal!“ Sinnvoll sei es, Nähe und Distanz sorgfältig auszutarieren“, so Montau: „Rücken Sie dem Mieter von nebenan oder der Familie von gegenüber also nicht zu sehr auf die Pelle.“