Was Kondom-Dosen und Milchkannen über die NS-Zeit verraten

Kondome für deutsche Soldaten, Zahnbürsten mit erzieherischen Gravuren oder die Milchkanne eines Rennfahrers: Im Boden verborgen liegen immer noch tonnenweise Überreste aus der NS-Zeit – Kriegsmaterial, aber auch viele Alltagsgegenstände von Tätern wie von Opfern. Wie wichtig solche Funde für die Forschung sind, haben am Mittwoch führende Archäologen in der Dokumentation Obersalzberg betont – und ein entsprechendes Positionspapier vorgestellt. Darin heißt es, dass es notwendig sei, Funde aus der NS-Zeit zu erhalten, sie qualifiziert zu dokumentieren und zu erforschen. Als Gründe nennen die Experten vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege und dem Bundesdenkmalamt in Österreich unter anderem die historische Einmaligkeit des Holocausts, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das bevorstehende Ende der Generation der NS-Zeitzeugen.

Stefanie Berg vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Rande der Präsentation, dass archäologische Funde den endgültigen Beweis dafür lieferten, dass es zum Beispiel Gaskammern gab und dort Menschen zu Tode kamen. Berg spricht zwar mit der Existenz von Gaskammern eine historische Tatsache an. Der Holocaust wird aber – je länger die NS-Zeit zurückliegt und je weniger Überlebende es gibt – weniger beachtet, relativiert, von einigen gar geleugnet. Archäologische Funde als Beweis der Existenz würden daher immer wichtiger, sagte Berg, die Abteilungsleiterin für Bodendenkmalpflege ist.

Viele Funde seien Alltagsgegenstände, die die Geschichte zwar nicht grundlegend neu schreiben, aber wichtige Einblicke geben, sagte Berg weiter. Als Beispiel nannte sie Funde vom Obersalzberg bei Bauarbeiten vor zwei Jahren. Der Obersalzberg oberhalb von Berchtesgaden war ab 1933 Feriendomizil von Adolf Hitler und NS-Funktionären. Später wurde das Gelände zum „Führersperrgebiet“ ausgebaut und galt als zweiter Regierungssitz neben Berlin.

Gefunden wurde bei dem Bau eines Hotels vor zwei Jahren unter anderem eine Zahnbürste mit der Inschrift: „Dem braven Kind“. Diese gewähre einen Einblick in die damaligen erzieherisch-autoritären Vorstellungen, dass also ein Kind gehorsam gegenüber den Eltern sein sollte, sagte Berg. Entdeckt wurde auch eine Metalldose mit der Aufschrift „Gummischutz Dublosan“, in der deutsche Soldaten also Kondome aufbewahrten. Solche Funde untermauerten die bereits bekannte Doppelmoral des NS-Regimes im Umgang mit Sexualität, erläuterte Berg. Soldaten durften sich vergnügen und Sex haben, sollten sich aber vor Geschlechtskrankheiten schützen. Ansonsten seien Kondome verboten gewesen, Nachwuchs hingegen höchst willkommen – allein für Kriegszwecke.

Warum nicht gezielt gesucht wird, sondern so gut wie immer im Zusammenhang mit Bauarbeiten, liegt laut Berg an der schieren Masse der vermuteten Überreste im Boden – etwa im Umfeld von ehemaligen Konzentrationslagern, Arbeitslagern oder NS-Gebäuden. Allein Arbeitslager habe es auf deutschem Boden rund 45.000 gegeben, in München mehrere hundert. Wo genau diese sich befunden haben, sei heute nicht mehr bekannt, viele Areale seien längst wieder bebaut. Wenn Gebäude abgerissen oder neu gebaut werde und man auf dem Gebiet NS-Überreste vermute, werde natürlich gesucht. Im vergangenen Jahr gab es laut Berg im Freistaat rund 900 Grabungen bei Bauarbeiten. Für die Archäologen bedeutet das volle Auslastung.

Gezielte Grabungen am Obersalzberg seien ohnehin nicht üblich, sagten Berg und Sven Keller, Leiter der Dokumentation Obersalzberg. Die US-Amerikaner hätten nach der Kapitulation Deutschlands den Obersalzberg für Plünderungen freigegeben, vieles sei zerstört worden. Dazu komme, dass der Obersalzberg als Täterort erst um die Jahrtausendwende in den Fokus gerückt sei. Die dortige Dokumentation wurde 1999 eingerichtet. Bis dahin habe sich Deutschland vor allem mit den Opferorten wie Konzentrations- und Arbeitslagern auseinandergesetzt. Der Bau eines Hotels während der Corona-Pandemie sei daher die erste richtige Gelegenheit gewesen, nach Überresten zu suchen.

Eines der interessantesten Objekte, das dabei ans Tageslicht befördert wurde, dürfte eine Milchkanne mit der Beschriftung „Josef Giggenbach“ sein. Josef Giggenbach (1906-1980) war nachweislich ein erfolgreicher Motorradrennfahrer aus Bayern, der der Motor-SS beitrat und dort als Fahrer arbeitete. Die gefundene Milchkanne deute darauf hin, dass Giggenbach auf dem Obersalzberg gewohnt und dort womöglich NS-Größen wie Adolf Hitler zu Diensten gestanden habe, erzählen Berg und Keller. Um Genaueres zu erfahren, müsse nun weiter geforscht werden. (01/2091/10.07.2024)