Artikel teilen:

Was das Leben von Hochbetagten noch trägt

“Ich bin übrig geblieben”, erklären manche Hochbetagte – zurückgeworfen auf Erinnerungen, Einsamkeit und die Suche nach einem Sinn. Was alten Menschen dennoch Halt geben kann.

Gerda hatte ein erfülltes Leben. Sie zog mit ihrem Mann zwei Kinder groß, war Tanzlehrerin und viel unterwegs. Heute sind auch ihre Enkel längst erwachsen, der Ehemann schon seit vielen Jahren tot, und auch alle alten Weggefährten, Nachbarn und Freunde leben nicht mehr. Seit einigen Jahren sitzt die früher so agile 94-Jährige im Rollstuhl, ist auf fremde Hilfe angewiesen. Vor allem der Winter mit seiner langen Dunkelheit und der Kälte macht ihr zu schaffen. “Ich habe mein Leben gelebt, was soll ich noch hier?”, fragt sich die Seniorin.

Eine Frage, die sich Hochaltrige mit zunehmender Gebrechlichkeit und auch Vereinsamung mitunter stellen. Was aber kann man diesen Menschen sagen, die das Gefühl haben, übrig zu bleiben und “vom lieben Gott vergessen” worden zu sein?

Für Brigitte Döpper ist es eine verständliche Reaktion, dass alte Menschen das Gefühl haben, “der letzte Mohikaner” zu sein. Aber nicht jeder empfinde so, “das hängt davon ab, wie die Leute gestrickt sind”, wie die Beauftragte für Altenheimseelsorge im Erzbistum Köln aus eigener Erfahrung weiß. Sie erinnert sich, wie sie mit ihren betagten Eltern das alte Familienalbum angesehen hat. “Mein Vater sagte ‘Da waren wir noch alle zusammen, das war so ein schönes Fest’, meine Mutter dagegen meinte: ‘Oh Gott, die sind alle tot, ich bin hier die letzte Überlebende…”.

Pfarrerin Christine Schöps beobachtet eine besondere Form von Einsamkeit im hohen Alter – “wenn kaum noch Gleichaltrige da sind; also Menschen, die ähnliches wie man selbst erlebt haben”. Jüngere Angehörige könnten das nicht ausgleichen, beobachtet sie. Eine Frage, die sie Hochbetagten dann behutsam stellt: “Welchen Sinn könnte es haben, dass Sie noch da sind?”

Beim Sprechen über ein langes Leben kommen aus Erfahrung der Gemeindepfarrerin aus dem pfälzischen Neustadt oft positive Kräfte zur Entfaltung. Auch die meisten Bilder und Gegenstände im Umfeld des alten Menschen hätten “eine Geschichte – da kann man mit den Leuten auf Entdeckungsreise gehen” und nachspüren, was diese schon alles durchs Leben getragen hat. Dadurch werde der Fokus geweitet. Die Menschen spürten, “es gibt ja doch mehr als das negative Empfinden”.

Erika Ochs von der Altenheimseelsorge im Bistum Mainz rät, bei negativen Aussagen hellhörig zu werden. “Warum sagt jemand: ‘Das Leben ist genug’?” – häufig sind es die Umstände”, sagt die Seelsorgerin. “In Einrichtungen der Altenhilfe fühlen sich Menschen häufiger einsam als im familiären Umfeld, obwohl sie ja in einer Gemeinschaft leben”, beobachtet Ochs. Einen Grund sieht sie darin, dass “tiefe Gespräche und Ansprache fehlen – das ist schon alarmierend”.

Wenn sie so etwas mitbekommt, schaue sie genau hin, “wodurch sich Menschen getragen fühlen”. Was hat ihr Leben ausgemacht, was hat ihnen Freude gemacht? Ochs versuche dann mit dem Menschen, behutsam eine sinnhafte Perspektive entwickeln. Sie schaut dann: Wer war die Person? Wie sieht sie auf ihr Leben? Fühlt sie sich von Gott getragen? Die Gemeindereferentin dann zu einem Perspektivwechsel ein: Was geht noch? Was macht noch Spaß?

Zu spüren “Gott ist mit dabei – ich bin nicht alleine”, könne alte Menschen entlasten und sie aus dem Gefühl holen, “dass alles nur noch rückwärts geht”. Für Ochs geht es darum, in dem Moment für den betagten Menschen dazusein, Dinge nicht zu verschweigen, sich auch schweren Themen des Lebens stellen, die Situation anzunehmen. Von “billiger Vertröstung” hält die Seelsorgerin nichts, “das ist schal”.

Auch Pfarrerin Schöps weiß, dass man lebenssatten Menschen nicht mit fertigen Lösungen oder einer ausgeklügelten Antwort kommen sollte. Vielmehr sollte man mit dem Menschen “die Kostbarkeit des Moments auskosten”, auch mal Stille aushalten. Denn für Schöps ist es “ein großer Vertrauensbeweis, wenn mir das ein Mensch anvertraut”. Schöps versucht dann zu ergründen, was die Person zu dieser Äußerung verleitet. Das kann aus ihrer Erfahrung ein konkreter Anlass sein oder auch eine allgemeine Befindlichkeit.

Das Phänomen, im Alter von seinem Leben nichts mehr zu erwarten, sei im Übrigen nicht neu, gibt die Krankenhausseelsorgerin im pfälzischen Neustadt zu bedenken. Sie verweist auf den Prophet Elia im Alten Testament, der sagt “Es ist genug, so nimm nun Herr meine Seele” (1 Kön 19,4). Heute komme dieser Wunsch häufiger vor, weil es eine wachsende Zahl älterer und hochaltriger Menschen gebe und zugleich die Erwartung, weiter mithalten zu können, während man sich selbst als Last empfinde.

Das gesellschaftliche “Schneller, höher, weiter” und die Fixierung auf Leistung und das Mithaltenkönnen sieht auch Döpper kritisch. Deshalb sei es nicht verwunderlich, dass sich ein alter Mensch dann sage: “Ich bin zu nichts mehr Nutze, mein Leben ist wertlos”. Oft seien solche Äußerungen nur eine Momentaufnahme und keine dauerhafte Befindlichkeit. “Das Wertgeschätzt- und und Gehörtwerden ist für Hochbetagte wichtig, oft können aber wir Jüngeren solche Äußerungen schlecht aushalten.”

Auf keinen Fall sollte man so eine Aussage herunterspielen oder schnell zu einem angenehmeren Thema wechseln, sagt Döpper. Vielmehr rät sie, beispielsweise die Lebensleistung des Gegenübers zu würdigen, etwa mit den Worten “Du hast ein langes Leben gehabt, und ich danke Dir für alles, was Du für mich getan hast”.

Werde ich nächstes Jahr an Weihnachten noch hier sein? Ein Gedanke alter Menschen, der für Pfarrerin Schöps zu der Frage einlädt, “was bei einem hypothetisch letzten Weihnachtsfest besonders wichtig wäre”. Man könne sich fragen: “Worauf sollten wir besonders achten? Was würdest Du gerne noch mal hören oder singen?”. Denn, so gibt Schöps zu bedenken: “Wir alle wissen nicht, ob und wie wir nächstes Jahr noch da sind – das betrifft nicht nur Menschen in hohem Alter”.